Verzauberter Zauberer

Theater-Regisseur Rolf Winkelgrund gestorben

  • HANS-DIETER SCHÜTT
  • Lesedauer: 3 Min.

Er zeigte keine prononcierten Glücksbilder, aber auch keine eindeutigen Unglücksbilder, keine polemischen Machtbilder, aber auch keine klagenden Ohnmachtsbilder. Er zeigte einfach Daseinsbilder ohne Gewissheiten. Rolf Winkelgrund inszenierte nicht, was er wusste, er brachte auf die Bühne, was ihn irritierte. In Cottbus, in Potsdam, in Berlin am Maxim Gorki Theater, am Deutschen Theater.

Geboren 1936 in Bielefeld, kam der Germanist 1961 in die DDR. In westdeutschen Remilitarisierungszeiten eine Flucht und ein Aufbruch. Ein junger Mann, der Träume hatte, nun würde er freilich auch die Beschädigungen leben, die verlässlich entstehen, wenn die Träume nur groß genug sind. Sein Theater ging davon aus, dass unser Wesenskern im Gespenstischen, Geheimnisvollen keimt. Wir haben eine Reserve in unserer Seele, die größer ist als das, was wir verbrauchen, eine Reserve an Gutem und Bösem, Großem und Niederen, Weitem und Engem, an Verstiegenheiten und Verlorenheiten. Wohin damit? Wie definieren wir unsere Existenz? Sind wir Heroen oder Kümmerlinge? Alles! Je nachdem, wie wir uns gerade verstehen, handeln und erleben - unser Kosmos ist die jeweilige Situation.

Unvergesslich »Der blaue Boll« von Ernst Barlach in den Kammerspielen des DT. Mit Kurt Böwe, Elsa Grube-Deister. Das Winkelgrund-Theater: Wer steht hinter der nächsten Ecke? Gott? Der Teufel? Ein Mensch? Ein einziger Lichtstrahl kann das gesamte Leben verändern. Suche nach der Wahrheit - aber mit der so verhängnisvollen wie besänftigenden Ahnung, sie nicht wirklich leben zu können. So hat er Matusche inszeniert und Rózewicz, Fugard und Lorca, O’Casey und O’Neill. Kurt Böwe hat ihn einen »verzauberten Zauberer« genannt, sprach vom »geistesabwesenden Leuchten«. Es geschah auf den Proben lange nichts, höchstens ein gespanntes Einvernehmen. Stille selbst bei aufgereiztesten Szenen. Die Dummheit, die immer auch verantwortliche Stellen besetzt, hat ihm in der DDR Esoterik, Verherrlichung des Dunkels vorgeworfen. Anwürfe aus einer Finsternis. Momente, in denen ihm das »gesellige Gewerbe« Theater als Bild der Gesellschaft hochkam, wie sie allzeit organisiert ist: Man weiß noch gar nicht, was etwas bedeutet, aber schon drängt man sich mit seinen kleinen Obsessionen und engen Blickwinkeln dozierend und richtend hinein, »wir, mit unseren Fernsehaugen und Autofahrerbeinen«. Winkelgrund spielte mit dem, was uns geistig, politisch, sozial erschreckt, er spielte mit dem Schwebezustand, dem Unvorhergesehenen.

Man muss sich das vorstellen: Winkelgrund bleibt mit sechs Mitschülern auf dem Gymnasium in Bielefeld in absichtsvoller Minderleistung sitzen, und das im Abschlussjahr - nur, um eine gemeinsam begonnene »Leonce und Lena«-Inszenierung im Schülertheater zu Ende bringen zu können. Man blieb doch nur in den Augen der Leistungs- und Ordnungsidioten sitzen, in Wahrheit hatte man sich mit Kunst erhöht. So eine Haltung kann ein Leben tragen. Nun ist Rolf Winkelgrund, wenige Wochen vorm 85., in Berlin gestorben.

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