In Haiti ist nicht mal der Präsident sicher

Der Mord an Jovenel Moïse verschärft die Instabilität

Haitis Fahrplan für eine Rückkehr zur institutionellen Stabilität ist endgültig Makulatur. Die Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse lässt die für den Herbst geplanten, längst überfälligen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen außer Reichweite rücken. Seit einem Jahr regierte Moïse per Dekret, denn das Parlament ist seit 13. Januar 2020 nicht mehr funktionsfähig - die Neuwahlen stehen seit 2018 aus. Zudem war aus Sicht der Opposition auch Moïses Amtszeit bereits am 7. Februar 2021 abgelaufen. Sie beruft sich dabei auf die Verfassung, die eine fünfjährige Amtszeit vorsieht - und im Februar 2016 gab Präsident Michel Martelly die Amtsgeschäfte ab. Sein Zögling Moïse datierte den Beginn seiner Amtszeit auf den Zeitpunkt seiner Vereidigung im Februar 2017 und wollte bis Februar 2022 im Amt bleiben und dann an den Gewinner der im Oktober 2021 geplanten Wahlen übergeben. Sekundiert wurde Moïse aus den USA. Die Regierung von Joe Biden sagte, dass ein neu gewählter Präsident Moïse nachfolgen solle, »wenn seine Amtszeit am 7. Februar 2022 endet«.

Dass ein Präsident in seinem eigenen Zuhause ermordet wird, ist angesichts der üblichen Sicherheitsvorkehrungen ein seltenes Ereignis. Mit einem Trick sollen sich die Angreifer Einlass verschafft haben, und das kam nicht von ungefähr: Haitis Botschafter in den USA, Bocchit Edmond, sprach von »professionellen« Söldnern, die sich als Mitarbeiter der US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA ausgegeben hätten. Haiti ist ein wichtiges Transitland für Drogen. Die Verbindungen zwischen Ex-Militärs, Politikern und den Drogenbossen sind bekanntermaßen eng; auch Moïse wurden immer wieder enge Verbindungen zu kriminellen Banden nachgesagt, belegt ist das freilich nicht. Nach Angaben von Edmond handelte es sich um einen wohl koordinierten Angriff einer gut ausgebildeten und schwer bewaffneten Gruppe.

Premierminister Claude Joseph sagte in einer Ansprache an die Nation, die Täter hätten Englisch und Spanisch gesprochen. Joseph war als Premierminister in Haiti eigentlich schon geschasst, Moïse hatte am Montag bereits die Ernennung des neuen Regierungschefs Ariel Henry bekannt gegeben. Henry wäre der siebte Regierungschef in vier Jahren Amtszeit von Moïse gewesen, aber Claude Joseph scheint die Gunst der Stunde nutzen zu wollen und macht noch keine Anstalten, sein Amt als Premier niederzulegen.

Die Regierung des Karibikstaates rief jeweils 15 Tage Belagerungszustand und Staatstrauer aus. Beide Erlasse unterzeichnete Claude Joseph am Mittwoch als Premierminister auf Abruf. Der Belagerungszustand erlaubt es der Regierung unter anderem, das Militär für Polizeiaufgaben einzusetzen und Bürgerrechte einzuschränken.

Joseph sieht bisher nicht die Opposition als Drahtzieher des Mordes: »Wir konnten sehen, dass viele Sektoren der Opposition gegen einen solch barbarischen Akt (die Ermordung) sind.« Er wolle mit offenen Armen auf die Opposition zugehen, um die Einheit des Landes voranzubringen. Und er bekräftigte auch, dass die Ermordung des haitianischen Präsidenten »nicht ungestraft bleiben wird«.

In den Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince sind derweil nicht viele Menschen zu sehen. Joseph wurde in den Nachrichten über sein Telefon zugeschaltet: »Wir verurteilen diese barbarische Tat, die Ermordung des Präsidenten. Wir rufen die Bevölkerung dazu auf, Ruhe zu bewahren. Die Polizei hat die Sicherheit im Land unter Kontrolle.«

Den Ansagen des Regierungschefs Claude Joseph dürfte die Bevölkerung wenig Glauben schenken. Im Februar protestierten die Haitianer*innen gegen die dauerhaft angespannte Sicherheitslage mit einem Generalstreik, Port-au-Prince war teilweise völlig lahmgelegt. Pays lòk, blockiertes Land - so wird die Lage in Haiti oft auf den Punkt gebracht. Sogar Schulen bleiben teilweise geschlossen. Nicht wegen der Corona-Pandemie, sondern um Lehrer*innen und Schüler*innen vor möglichen Entführungen zu schützen. Die haitianische Menschenrechtsorganisation Défenseurs Plus hat rund 1000 Entführungen allein für 2020 registriert.

Corona entwickelt sich jedoch inzwischen durchaus auch zum Risiko. Am 24. Mai wurde der Gesundheitsnotstand ausgerufen, da nach Entdeckung der Alpha- und Gamma-Varianten, die zuerst in Großbritannien bzw. Brasilien identifiziert wurden, die Infektionen zunahmen. Die offiziellen Corona-Zahlen sind zwar noch vergleichsweise gering, obwohl viele Menschen dort dicht gedrängt und unter schlechten hygienischen Bedingungen leben. Bis zum 8. Juli wurden rund 19 000 Infektionen und 467 Todesfälle registriert. Es wird aber äußerst wenig getestet.

Die Regierung lehnte im April sogar eine Lieferung des Astra-Zeneca-Impfstoffes mit der Begründung ab, die Bevölkerung würde diesen wegen der in Europa festgestellten Thrombosefälle vielleicht nicht annehmen. Haiti gehört zu den wenigen Ländern, die bisher überhaupt keine Vakzine haben.

Bei der Dringlichkeitssitzung des Weltsicherheitsrats am Donnerstag gab es viel zu bereden. Jovenel Moïse musste am 22. Februar dort zum Rapport antreten und vertrat eine exklusive Sicht auf die Dinge: »Der Demokratie geht es gut in Haiti.« Dieses Bild stimmte schon damals nicht. »Der Kampf gegen die Straflosigkeit muss die Priorität der Behörden sein«, brachte die Uno-Botschafterin Frankreichs Nathalie Broadhurst damals ihren Unmut über die Entwicklung in Haiti zum Ausdruck. Der Mord an Moïse ist ein neuer Höhepunkt in dieser Entwicklung - ein Schlusspunkt nicht.

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