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Das Immunsystem braucht Training
Nach Monaten der Isolation sind in Neuseeland besonders Kleinkinder stärker von schweren Atemwegserkrankungen betroffen
Dass ein Aufenthalt in einer einsamen Forschungsstation in der Antarktis das Immunsystem schwächt, wissen Forscher bereits seit einigen Jahren. Auch die Isolation während der Corona-Pandemie richtet mehr Schaden an, als bisher gedacht. Im abgeschotteten Neuseeland liegen etliche Kinder mit einem potenziell tödlichen Atemwegsvirus im Krankenhaus. So mussten in der Hauptstadt Wellington in den vergangenen Tagen fast 50 Kinder deswegen behandelt werden. Darunter sind auch Säuglinge, von denen viele beatmet werden müssen. Verschiedene Krankenhäuser verzeichnen laut lokaler Medien einen Anstieg der Fälle. Eine Klinik hat bereits ein Spielzimmer in einen Behandlungsraum umgewandelt, andere Krankenhäuser mussten Operationen verschieben.
Neuseeland ist seit März 2020 vom Rest der Welt isoliert. Dadurch hatte der Pazifikstaat die Pandemie so gut im Griff wie kaum ein anderes Land der Welt. Weniger als 3000 Infektionen und 26 Tote wurden hier bisher registriert. Doch die Abschottung, gepaart mit einer siebenwöchigen Ausgangssperre zu Beginn der Pandemie, außerdem Distanzierungsmaßnahmen und der Einsatz von Desinfektionsmitteln - all das hat nun einen unerwünschten Nebeneffekt: Das Immunsystem vieler Menschen ist geschwächt. Vor allem Kleinkinder sind die Leidtragenden.
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Nachdem das Land sich nun wieder langsam öffnet und seit April einen Reisekorridor mit einigen australischen Städten ermöglicht hat, breitet sich vor allem das RS-Virus aus - möglicherweise importiert von australischen Urlaubern. In Neuseeland traf das Virus auf fruchtbaren Boden, sprich auf deutlich mehr Kinder, die dem Virus noch nie zuvor ausgesetzt waren.
RS-Virus steht für das Respiratorische-Synzytial-Virus (RSV). Zu den Symptomen gehören eine laufende Nase, Husten, verminderte Nahrungsaufnahme und Fieber. Die Viren können eine akute Bronchitis bei Säuglingen und kleinen Kindern auslösen. Komplikationen ähneln denen bei Covid-19, zum Beispiel Atembeschwerden, die sich zu einer Lungenentzündung entwickeln können. Schwere Fälle führen gelegentlich zum Tod, überwiegend bei sehr jungen Säuglingen. Das Virus wird verbreitet, wenn eine infizierte Person niest oder hustet - auch hier ähnelt es Sars-CoV-2. Doch im Gegensatz zum Coronavirus sind Kinder anfälliger für eine Infektion als Erwachsene.
In Neuseeland führten Ausgangssperre und Beschränkungen im letzten Winter zu einer fast vollständigen Eliminierung der Grippefälle und einer 98-prozentigen Verringerung von RSV-Fällen. »Dieser kurzfristige positive Nebeneffekt ist zu begrüßen, da er eine zusätzliche Überlastung des Gesundheitssystems verhindert«, schrieben französische Ärzte im Mai in einer Studie zu dem Thema. Langfristig könne dies jedoch zu eigenen Problemen führen: Wenn unter Kindern keine bakteriellen und viralen Infektionen zirkulieren, entwickeln sie keine Immunität - was später zu größeren Ausbrüchen führt. Diese »Immunitätsschuld«, wie Experten das Phänomen bezeichnen, könne Krankheiten explodieren lassen.
Michael Baker, ein neuseeländischer Epidemiologe und Gesundheitsexperte, verglich das Phänomen im Interview mit dem »Guardian« mit einem Waldbrand: Je mehr Zeit ohne Feuer vergangen ist, umso mehr Brennstoff sammelt sich auf dem Boden, um die Flammen zu nähren. Entsteht dann ein Feuer, brennt es heftiger als normal. »Was wir derzeit erleben, ist, dass wir eine ganze Menge anfälliger Kinder haben, die dem Virus nicht ausgesetzt waren und ihm nun zum ersten Mal begegnen«, sagte Baker.
Neuseeland ist nicht das einzige Land, das einen extremen Anstieg an RSV-Fällen verzeichnet. Ian Barr vom Peter-Doherty-Institut für Infektionen und Immunität in Melbourne bestätigte in einem Videotelefonat, dass es im ebenfalls isolierten Australien zu ähnlichen RSV-Ausbrüchen gekommen ist. Auch Barr erklärt dies mit einer Kombination aus Isolation, Hygienemaßnahmen und Distanz zu anderen Menschen während der Pandemie. Australien und Neuseeland, die mehr vom Rest der Welt abgeschnitten sind als andere Länder, bekommen den Effekt besonders zu spüren. Doch auch in Europa könne man ähnliches beobachten, berichtete der Experte. »Sobald wir uns wieder mehr öffnen, müssen wir alle wieder mit mehr Fällen von RSV oder eben Grippefällen rechnen.«
Beide Erkrankungen waren durch die Hygienemaßnahmen extrem eingedämmt worden. In Australien wurde in diesem Jahr offiziell bisher kein Grippetoter registriert. »Doch die nächste Saison könnte dafür deutlich schlimmer werden«, befürchtet Barr. Um den Effekt zu reduzieren, empfiehlt er, das Maskentragen in den Wintermonaten weiterzuführen. In Asien werde dies schon seit Langem befolgt.
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