Ein schwarzer Tag für Norwegen

Vor zehn Jahren legte ein Rechtsextremist in Oslo eine Bombe und machte auf der Insel Utøya Menschenjagd auf linke Aktivisten

Es ist nie vorbei. Der Tag, der sich jedem in Norwegen mit vielen schrecklichen Details eingebrannt hat, wird auch ohne ein rundes Datum immer wieder ins Bewusstsein gerufen. So war es am 11. August 2019, als der damals 22-jährige Philip Manshaus aus rassistischen Motiven seine asiatischstämmige Stiefschwester tötete und anschließend in einer Moschee in Bærum westlich von Oslo Muslime erschießen wollte. Vor dem Gericht von Sandvika, das ihn zu einer Haftstrafe von 21 Jahren verurteilte, zeigte der Täter den Hitlergruß. So, wie es sein Vorbild Anders Behring Breivik getan hatte, als er 2012 wegen 77-fachen Mordes juristisch zur Rechenschaft gezogen wurde. Auch die Argumentation der beiden Täter vor Gericht folgte demselben rassistischen Schema einer vorgeblichen Notwehr gegen eine »Überfremdung« der Gesellschaft durch Einwanderer.

Der Terrorist von Oslo und Utøya macht auch Jahre nach seinen Bluttaten aus dem Gefängnis heraus auf sich aufmerksam. Anders Behring Breivik, der seinen Namen im Juni 2017 offiziell in Fjotolf Hansen ändern ließ, scheiterte 2018 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit einer Beschwerde gegen seine Haftbedingungen. Und erst im vergangenen Sommer wurde sein Antrag auf vorzeitige Entlassung aus der Haft abgelehnt. Am 24. August 2012 hatte das Osloer Bezirksgericht Breivik zur Höchststrafe nach norwegischem Recht von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Faktisch bedeutet das lebenslänglich. Der Spruch lief dem Antrag der Staatsanwaltschaft entgegen, die den selbst ernannten »Soldaten und Tempelritter« in einem internationalen Kulturkampf in die Psychiatrie abschieben wollte. Die Pathologisierung der ideologischen Denkweisen von Breivik, die ihn als Einzeltäter von der Gesellschaft absondert, ist eine bis heute anhaltende Erscheinung. Sie bildet weiter eine Sperre gegenüber einer Selbstbefragung der Gesellschaft über Norwegens rege rechtsnationalistische Szene, über Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie als Hintergrund zu Breiviks Selbstverständnis, eine politische Tat im Interesse vieler zu begehen.

Das Ausmaß, die Heimtücke und Skrupellosigkeit, mit der Breivik seine surreal erscheinende Mordorgie beging, heben sie unter den rechten Hassverbrechen heraus. Ganz allein verübte der Fanatiker den schwersten Terroranschlag in Norwegen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Am Tag, der nicht aus heiterem Himmel kam, schlug Breivik zunächst im Zentrum von Oslo zu. Kurz vor 15.30 Uhr explodierte vor dem Regierungsgebäude Höyblokka eine Bombe, die der Täter in einem Lieferwagen deponiert hatte. Etwa eine Tonne Düngemittel hatte er für ihren Bau verwendet. Die gewaltige Detonation verwüstete den 17-stöckigen Bau, in dem das Justizministerium und der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Jens Stoltenberg ihren Sitz hatten. Acht Menschen starben bei dem Anschlag, mehr als 200 erlitten Verletzungen. Dies allein hätte genügt, um das skandinavische Land mit seinen etwas mehr als fünf Millionen Einwohnern einen kollektiven Schock zu versetzen.

Der Bombenanschlag war nur der Auftakt zu einem kaum fassbaren weiteren Horror. Breivik, der sich zu Fuß vom Tatort entfernt hatte, fuhr mit einem Auto zur etwa dreißig Kilometer von Oslo im See Tyrifjord gelegenen Insel Utøya, zu der er sich mit einer Fähre übersetzen ließ. Die Jugendorganisation von Stoltenbergs Arbeiterpartei veranstaltete hier ihr jährliches Sommercamp. Die kleine Insel mit einer Cafeteria, Unterkünften und Schulungsräumen befindet sich im Besitz der Arbeiter-Jugendliga (AUF). Etwa 560 Personen, die meisten Jugendliche, befanden sich auf Utøya, als Breivik kurz nach 17 Uhr dort eintraf. Breivik hatte sich als Polizist verkleidet und rief die Anwesenden zusammen, da er sie angeblich über den Anschlag von Oslo informieren wolle und zu ihrem Schutz da sei. Dann begann er zu schießen. Der Terrorist benutzte dabei ein halbautomatisches Gewehr vom Typ Ruger Mini-14 und eine großkalibrige Glock-Pistole. Als Mitglied in einem Schützenclub besaß er diese Waffen legal. Eine Stunde lang verfolgte Breivik systematisch die verzweifelt fliehenden Jugendlichen über das etwa 14 Hektar große Eiland, seine Opfer richtete er förmlich hin, während er über die Kopfhörer seines iPods Musik hörte. Versteckt zwischen Felsen am Ufer, hinter Bäumen im Wäldchen oder schwimmend suchten die Menschen auf Utøya dem Tod zu entkommen. 61 Minuten nach der Alarmierung der Polizei landete eine Spezialeinheit auf der Insel, wenige Minuten später konnte sie Breivik widerstandslos festnehmen. Den Polizisten bot sich ein Bild des Schreckens. Überall auf der Insel lagen Opfer des Massakers. Mit Booten wurden etwa 150 Menschen lebend aus dem Wasser gerettet.

Bei der Umsetzung seines Vorsatzes, der Arbeiterpartei einen maximalen Schaden zuzufügen, weil sie in Breiviks Augen für eine liberale Einwanderungspolitik stand, war er von grausamer Effizienz. Wie die Ermittlungen ergaben, hatte der damals 32-Jährige auf der Insel mindestens 187 Schüsse abgegeben. Auf die meisten der Verstorbenen feuerte er mehrfach. 67 Teilnehmer des AUF-Sommercamps starben an den ihnen von Breivik beigebrachten Schussverletzungen, zwei verunglückten tödlich auf der Flucht vor dem Menschenjäger. Dutzende weitere Jugendliche wurden verletzt.

Bevor er zur Tat schritt, hatte der Einzelgänger Breivik bei Facebook noch ein mehr als 1500 Seiten langes narzisstisches Manifest mit dem Titel »Eine europäische Unabhängigkeitserklärung« verbreitet. Der am 16. April 2012 eröffnete und zehn Wochen dauernde Strafprozess gegen den Mörder verschaffte diesem weitere Publicity. Wie bereits in den Vernehmungen unmittelbar nach der Tat interessierte sich Breivik auch während der Verhandlung ausschließlich für sich selbst und war bestrebt, sich in eine Märtyrerrolle zu rücken. Sein Machwerk richtet sich vor allem gegen eine Islamisierung und Feminisierung Europas und den sogenannten Kulturmarxismus. Das Konstrukt des »kulturellen Marxismus«, welcher die westliche Welt unterwandere, hat einen festen Platz im Kanon der neuen Rechten, die damit Aufklärung und Liberalismus meint.

In den Jahren vor der Tat hatte sich Breivik von der nationalistischen Fortschrittspartei, der er von 1999 bis 2005 angehörte, in die rechtsextreme Szene bewegt und seine Fantasien im Internet ausgelebt. Kapital beschaffte sich der aus schwierigen Verhältnissen Stammende - das Gymnasium in Oslo hatte er ohne Abschluss verlassen - mit Betrügereien. Zur Identifikationsfigur einer rechten Bewegung langt es bei Breivik, der mittlerweile Gott Odin folgt, nicht.

Was den wirklichen Opfern widerfuhr, führt der neue schwedische Dokumentarfilm »Utøya - niemals vergessen, niemals schweigen« vor Augen. Er begleitet die Reporterin Carina Bergfeldt zurück in das 2011 als Krisenzentrum dienende »Sundvolden Hotel«, wo damals Listen mit den Namen der Toten und Verletzten an den Wänden hingen, verzweifelte Eltern auf Nachricht vom Schicksal ihrer Kinder warteten. Gespräche mit Zeugen und Überlebenden machen den Horror deutlich. Am Jahrestag werden in Norwegen die Glocken läuten. Auf Utøya erinnert die AUF, deren Mitgliederzahl auf etwa 15 000 gestiegen ist, mit einer kleinen Gedenkstätte an die Opfer. Ein nationales Denkmal wurde beschlossen, aber bisher nicht verwirklicht. Eine Leerstelle, die die unvollkommene Aufarbeitung durch die Gesellschaft symbolisiert.

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