- Kultur
- »Matthias und Maxime«
Schmerzhafte Befreiung
Im neuen Film von Regisseur Xavier Dolan bringt ein inszenierter Kuss verborgene Wünsche ans Tageslicht
Der neue Film von Xavier Dolan (»I Killed My Mother«, »The Death and Life of John F. Donovan«) macht keine großen Geschichten. »Matthias und Maxime« ist eher die Darstellung einer Situation, eines Tatbestandes, eines Konfliktes, um den sich alles dreht und der irgendwie gelöst werden muss.
Die Sache ist, dass der Endzwanziger Matthias (Gabriel D’Almeida Freitas), glücklich mit Freundin Sarah liiert, mehr oder minder erfolgreicher Anwalt, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, seinen Freund aus Kindertagen, Maxime, verabschieden muss. Letzterer will nach Australien, irgendwie ein neues Leben beginnen, zunächst als Kellner.
Besonders durchdacht wirkt das nicht, es scheint ihm vor allem ums Abenteuer zu gehen. In einer Woche geht der Flug. Nun stehen verschiedene Verabschiedungstreffen, unter anderem mit der Jungs-Clique auf dem Programm. Der Abschied des besten Freundes läuft für Matthias aber zunehmend aus dem Ruder, denn die Gefühle für den Freund sind stärker als gedacht - und letztlich auch sexueller Natur.
Dolans Film setzt auf die exakte Beobachtung der beiden Protagonisten als unbewusst Verliebte, wobei der Regisseur selbst Maxime spielt. Seine Figuren sind ständig am Kommunizieren, alles erschließt sich über Gespräche. Bald wird klar, dass die Abreise nach Australien für Maxime in erster Linie eine Flucht ist. Eine Flucht vor der vollkommen lieblosen Beziehung zur alkoholkranken Mutter, deren Vormund er ist, Flucht auch vor dem eigenen Freundeskreis, in dem er sich nicht mehr recht verstanden fühlt, was wohl auch mit der ungewollt platonischen Beziehung zu Matthias zusammenhängt.
Auslöser der Verwicklungen der letzten Tage vor Maximes Abflug ist ein Kurzfilm der jüngeren Schwester von einem der Freunde, in dem Matthias und Maxime eine Kussszene spielen müssen.
Diese lässt bei beiden die bis dahin verborgenen Wünsche bewusst werden (später wird klar, dass Matthias in Wahrheit schon seit längerem Maximes Abreise hintertreibt). Bereits in diesen ersten Minuten des Films zeigt sich die Meisterschaft Dolans beim Inszenieren menschlicher Beziehungen, in diesem Fall sein scharfer Blick auf den Gruppendruck, der sich selbst in gut eingespielten Cliquen und Familien entfaltet.
Denn die Atmosphäre bei dem ersten Zusammenkommen des Freundeskreises um Matthias und Maxime bei Kumpel Rivette ist bereits uneindeutig. Man foppt und knufft sich zwar, aber in der Luft liegt auch Gereiztheit und Argwohn, was dann auch zu jener verlorenen Wette führt, deren Einsatz Matthias’ Auftritt in besagtem Kurzfilm ist.
So stehen die Figuren dauernd unter sozialem Druck, keine Chance auf Entspannung, alles wirkt gehetzt, gezwungen, die Freunde sitzen, trinken und scherzen zusammen, kennen sich ein halbes Leben und sind doch kaum fähig zu echter Empathie.
Die homoerotische Offensive, die Matthias schließlich startet, ist seinerseits Flucht aus den lieblosen Zuständen und der testosteronschwangeren Männerrunde. Die unterdrückten homosexuellen Wünsche von Matthias werden so auch zum Symbol für die Unterdrückung von freier Sexualität insgesamt. Was bleibt, ist die Flucht aus der allumfassenden bürgerlichen Enge, die eben keineswegs dadurch verschwindet, dass die Gesellschaft politisch liberaler wird. Wo Maximes Fluchtpunkt mit Australien das andere Ende der Welt sein soll, lernen wir in Dolans Film, dass wahre Befreiung nur Überwindung innerer und gesellschaftlicher Einschränkungen bedeuten kann.
Matthias überträgt seine Zerrissenheit auf die Außenwelt, die Freunde, die gewohnte Umgebung, die Männerrunde. Der Konflikt eskaliert schließlich und wird handfest, womit Dolans Film nicht zuletzt auf die Gewaltform gesellschaftlicher Regulationen verweist, die unter bürgerlichen Bedingungen meistens sowohl marktförmig als auch religiös-fetischistisch ist.
Ganz am Anfang des Films bereits sieht man Maxime ein Werbeplakat betrachten, auf dem für ein »Brot der heiligen Familie« geworben wird, und auf dem eine ebensolche weiße Vater-Mutter-Sohn-Tochter-Familie großformatig abgebildet ist. Was er sich dort ansieht, ist die geschützte bürgerliche »Normalität«, von der er und Matthias sich bald schmerzhaft zu befreien versuchen.
»Matthias und Maxime«: Kanada 2019. Regie und Buch: Xavier Dolan. Mit: Xavier Dolan, Gabriel D’Almeida Freitas, Harris Dickinson, Anne Dorval. 119 Min., Start: 29. Juli.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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