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Das Künstlerische in der Misere
Lamiaa Ameen kombiniert zarte Töne mit ernsten Themen und illustriert die Periode, Depression und toxische Beziehungen
Eine Illustration, die nackte Frauenbeine zeigt, eröffnet Lamiaa Ameens Webseite: Blut fließt an den Beinen herab auf den Boden und bahnt sich seinen Weg auf einer Straße entlang dunkler Gebäude Kairos. Die Grafik über die Periode ist gewagt, denn in Ägypten werden der weibliche Körper und Sexualität als private Angelegenheiten gesehen, über die nicht öffentlich gesprochen wird. »Die Illustration repräsentiert den Kampf der Frauen, über den ich am meisten reden möchte. Sie sind vielleicht Mütter, Liebende oder Singles, sie arbeiten oder auch nicht - aber allen gemein ist, dass sie der Welt als mächtige Frauen gegenüberstehen.«
Ameen ist 31 Jahre alt, hat Kunst und Werbung studiert. »Werbung ist weder künstlerisch noch spirituell. Ich hatte das Bedürfnis, darüber hinaus viel über meine Hintergrundgeschichten, meine Gefühle und mich selbst zu erzählen. Also habe ich mir ein Skizzenbuch zugelegt. Dann habe ich die Skizzen, die mir am besten gefallen haben, am Computer gezeichnet.« Ameen arbeitet aber auch mit Bleistiften, Pastellen und Ölfarben. »Es braucht viele Wege, um seine Gefühle auszudrücken - und ich habe eine Menge Ideen.«
Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen.
Frauen in all ihren Facetten
Am bekanntesten ist Ameen durch ihre digitalen Illustrationen geworden, die sie auf Instagram präsentiert: Eine Frau, die gefesselt auf der Straße sitzt und ihre Zunge nach Kaugummi-Kugeln ausstreckt, die aus einem Automaten neben ihr fallen. Eine andere Frau, die sich über einen liegenden Mann beugt und ihm Planeten aus dem Mund saugt. Eines ihrer Lieblingsbilder, das auch gerahmt über ihrem Sofa hängt, zeigt eine Frau mit blauen Haaren. Sie schaut auf die unter ihr liegende Stadt, in ihrem Bauch ist ein großes, rechteckiges Loch, das den Blick auf die blaue Farbe des Himmels freigibt.
Knapp 14 000 Abonnent*innen hat sie mit ihrer Kunst gesammelt, die meisten von ihnen kommen aus Ägypten. Die Illustrationen sind leicht in ihren Farben, tiefgründig und schwermütig in ihren Sujets. Die Resonanz auf ihre Bilder ist positiv: Vor allem Frauen fühlen sich von Ameen gut repräsentiert und verstanden.
»Am Anfang habe ich mich verloren gefühlt und habe angefangen, diese in der Welt verlorene Person zu zeichnen.« Sie zeigt auf ein zweites gerahmtes Bild über ihrem Sofa: Eine Frau sitzt auf einer Bank, um sie herum hängen Einmachgläser, darin menschliche Gehirne und Herzen. »An diesem Punkt in meinem Leben habe ich sprichwörtlich Menschen gesammelt. Ich wollte viele Leute kennenlernen, sie um mich versammeln.«
Ihre Inspiration bekommt sie über Fotos und Bilder: Auf der Plattform Pinterest sammelt Ameen in Ordnern Bilder von stylischen Varianten, das Kopftuch zu tragen, Logos und Schriftarten, Filmposter, Muster und vor allem Porträtfotos - Köpfe von Frauen, junge und ältere, mit braunen oder blauen Augen, kurzen oder langen Haaren, Piercings oder Tattoos. Besonders liebt sie Sommersprossen.
Ihren Lebensunterhalt verdient Lamiaa Ameen in einer Werbeagentur. Stolz zeigt sie auf dem Computer ihre sogenannten Moodboards: Collagen mit Neonfarben, Objekten, Orten und Menschen. Diese Dateien sind ein Kunstwerk an sich, sollen aber nur einen ersten Eindruck von dem Projekt geben: In welchen Farben werden die Bilder gehalten sein? Welche Stimmung soll bei der Betrachtung aufkommen? Ameens Stimmungstafeln, die sie beruflich fertigt, haben meist poppige, grelle Farben.
Nach Feierabend ist sie dann Künstlerin und gestaltet ihre Werke in Pastelltönen. Auch ihr Handy ist von einem sanften Hellgelb umhüllt. Ameen mag ihren Job in der Werbeindustrie, obwohl die Branche stark von männlichen Sichtweisen geprägt ist. In einer ägyptischen Werbung für Knabbergebäck beispielsweise nörgelt eine Frau an ihrem Mann herum, der Fernsehen schaut. Er greift in die Chipstüte, und während er isst, verwandelt sich die Frau durch Filter in ein Häschen oder bekommt Herzaugen.
»Das ist genau der Grund, warum ich neben der Werbung noch etwas anderes machen wollte.« Denn die Branche sei sexistisch, sagt Ameen, auf diesen Werbeclip angesprochen. Für sie sei die Werbeindustrie auch nicht ethisch genug oder realistisch. Deshalb möchte sie ihre eigene Geschichte erzählen: emotional und humaner.
Viele Illustrationen von Ameen zeigen Gebäude und Umrisse einer Stadt. In einigen von ihnen geht es um die Beziehung zwischen öffentlichem Raum und privaten Beziehungen. Für die »Washington Post« hat Ameen die sexuelle Belästigung von muslimischen Frauen in Moscheen bebildert. Auf dem Bild über MosqueMeToo tanzt eine Frau mit Kopftuch, unter ihren Füßen wächst eine Pflanze, während sie elegant und selbstbestimmt einen Mann von sich schiebt.
Sexuelle Belästigung ist ein ständiges Thema in Ägypten. Vergangenes Jahr wurde ein reicher Student der Amerikanischen Universität in Kairo zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er massenhaft Frauen belästigt und vergewaltigt hatte. Dass er übergriffig war, war der Universität bereits seit 2018 bekannt. Doch weil er aus einer einflussreichen Familie stammt, dauerte es drei Jahre, bis er verhaftet wurde. Leider kein Einzelfall: Eine Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2013 ergab, dass 99 Prozent der Frauen in Ägypten sexuell belästigt wurden - entweder verbal oder physisch.
»Hier in Ägypten haben wir viele Fälle von sexueller Belästigung«, bestätigt auch Lamiaa Ameen. »Deshalb wollte ich immer Frauen in dieser Gesellschaft unterstützen. Auf der Arbeit besteht mein ganzes Team aus Frauen, und ich liebe es, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ich liebe es, ihnen zu sagen, dass sie gut sind und eine große, erfolgreiche Kampagne stemmen können.« Ameen ermutigt ihr Team, ihre Ansichten und Perspektiven als Frauen in ihre Arbeit einfließen zu lassen - es müssten nicht immer die männlichen Sichtweisen sein, sagt sie.
Durch den Lockdown hat Ameen mehr Gelegenheiten zu kochen, sonst übernimmt das ihre Haushaltshilfe. Neben der Arbeit bleibt nicht viel Zeit. Ameens junger Sohn genießt ihre Aufmerksamkeit und fordert sie auch manchmal ein. »Für Männer ist es ganz normal, den ganzen Tag außer Haus zu sein«, erzählt Ameen. »Der Vater geht morgens aus dem Haus, küsst das Kind und geht. Aber ich bevorzuge es, eine Balance zu haben. Ich liebe es, am Morgen Zeit mit meinem Sohn zu verbringen, dann arbeiten zu gehen, und wenn ich nach Hause komme, Essen zu machen, mit ihm zu spielen und ihn ins Bett zu bringen. Erst dann gehe ich zurück an die Arbeit. Aber dafür bezahle ich mit meiner Gesundheit, vor allem mit weniger Schlaf.«
Einige ihrer Erfahrungen verarbeitet sie in der Kunst. »Alle meine Zeichnungen, Skizzen oder Texte drehen sich um Beziehungen. Sie nehmen viel Raum in meinem Leben ein.« Ein Herzensprojekt, das sie vergangenes Jahr verwirklicht hat, war ein Kurzfilm über eine toxische Beziehung. Das Video zeigt eine junge Frau mit Sommersprossen, die mit einem Kaktus zusammenlebt. Die Verliebte umarmt den senfgelben Übertopf ihres Geliebten, an ihrem Finger klebt ein rotes Pflaster. In den nächsten Einstellungen malt sie den Kaktus oder er steht neben ihr, wenn sie liest. Mit der Zeit nimmt die Zahl der Pflaster an ihren Fingern zu. Ob das Werk biografisch ist, möchte Ameen nicht sagen. Mit dem Vater ihres Sohnes habe sie so manche Beziehungspause erlebt - mehr möchte sie nicht verraten.
Kunst aus einer Krise
Umso wichtiger seien ihr Freundschaften. Den 37-jährigen Bassem Ainu lernte sie über Instagram kennen. Er ist ebenfalls ein kreativer Kopf, arbeitet in der digitalen Werbebranche. Sie trafen sich, motivierten sich gegenseitig, tauschten sich über Kunst aus und freundeten sich an.
Dann verband sie eine besondere Geschichte: Ainu lebte in einem neuen Gebäude. Der Erbauer, so erzählt es Ainu, war ein experimentierfreudiger Künstler. »Er spielte mit dem Fundament und hat ein bisschen bei Konstruktion und Bau geschummelt.« So geschah es, dass die Wände nach zwei Jahren Risse bekamen; im dritten Jahr sackte dann die Decke ab. »Das Haus ist eingestürzt, und da saß ich nun, auf den Trümmern meines Zuhauses, und rauchte eine Zigarette.«
Ameen traf Ainu zu diesem Zeitpunkt und fing die Szene in einer Illustration ein. Er sagt rückblickend: »Sie entdeckte etwas Interessantes in der Geschichte, und sie mochte meine Reaktion darauf, dass ich den Vorfall auf die leichte Schulter nahm und ihn in einen dunklen Witz verwandelte.« Ameen sei in der Lage gewesen, seine Krise zu übersetzen und sie auf ihre eigene Weise darzustellen: »Verträumt, mit einer Palette von Farben, die die gemischten Gefühle widerspiegeln, die ich durchlebte. Sie fügte Sterne im Hintergrund hinzu, das gab der Geschichte etwas Surreales, Fiktionales. Und irgendwie wurde mein zerstörtes Haus auf einmal optimistisch, die Situation strahlte Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus und zeigte eine Gelegenheit, von vorne anzufangen. Sie hat etwas Künstlerisches in meiner Misere gefunden.«
Ainu mag an Ameen, dass sie Konversationen und Erlebnisse auf ihre Art interpretiere: »Für mich ist Lamiaa wie ein organisiertes Durcheinander: Sie sucht Inspiration von allem, mit dem sie in Kontakt ist. Sie findet etwas Faszinierendes in Sätzen, Liedern oder Ereignissen und macht sie zur Kunst.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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