Zwanzig Jahre Wedding

Sonntagmorgen: Post von der Hausverwaltung

  • Robert Rescue
  • Lesedauer: 3 Min.

Von selbst wäre ich nicht darauf gekommen, dass ich was zu feiern habe. Ich weiß, dass ich irgendwann in den Wedding gezogen bin, aber wann genau das war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wer hier lebt, verliert das Gefühl für die Zeit. Tage werden zu Wochen, Wochen zu Monaten und Jahre zu Jahrzehnten. Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich mal woanders gelebt habe, aber ich weiß nicht mehr wo.

Ausgerechnet die Hausverwaltung erinnert mich an das Jubiläum. Im Briefkasten liegt ein Umschlag mit einer Karte und ich denke, warum schickt mir die Hausverwaltung eine Karte - und das drei Tage nach Behebung einer mehrtägigen Wassersperre, die ich denen zu verdanken habe? Ob das eine Entschuldigung ist? Als ich die Karte aus dem Umschlag ziehe, sehe ich eine junge Frau im Businesskostüm, die mir einen Strauß Blumen entgegenstreckt. Daneben steht: Herzlichen Glückwunsch. Sieht so die typische Mitarbeiterin der Hausverwaltung aus? Mir scheint, als beschäftige sie sich einzig mit der Frage, wie sie den Ertrag der Immobilie steigern und Kosten senken kann. Ich öffne die Karte:

»Liebe Mieterin, lieber Mieter, seit 20 Jahren leben Sie bereits in Ihrer Wohnung. Wir gratulieren Ihnen recht herzlich zu diesem Jubiläum und wünschen Ihnen dort viele weitere glückliche Jahre! Wer über so viele Jahre in seiner Wohnung lebt, zeigt uns, dass er hier ein Zuhause gefunden hat.«

So würde ich das nicht sehen. Zugegeben, der Wedding ist mir ans Herz gewachsen, aber nicht diese Wohnung. Sie ist billig, das spricht für sie. Ich bin froh, dass ich mich nicht mit 150 anderen um eine Wohnung bewerben muss. Mietervertreibung brauchen wir durch die Hausverwaltung nicht zu fürchten, dazu ist sie zu inkompetent. Aber sie macht uns immer mal das Leben zur Hölle.

Ich betrete den Flur des Hinterhauses. Ein Dreivierteljahr brauchte die Hausverwaltung für die Modernisierung und drei Handwerkertrupps waren dazu nötig. Unser kleines BER, wie wir Mieter die Baustelle damals nannten. Der erste Handwerker war allein und lieh sich das Werkzeug von den Nachbarn. Der zweite Trupp blieb eine Woche und tat nichts. Der dritte Trupp ließ sich ein halbes Jahr Zeit. Einmal kam ein Vertreter der Hausverwaltung und inspizierte die Baustelle. Er kommentierte den Anblick mit den Worten »So schlimm habe ich das nicht erwartet« und ging dann seiner Wege.

Ich lese weiter: »Auch wir, die Mitarbeiter der Hausverwaltung, möchten jeden Tag dazu beitragen, dass Sie sich in Ihrem Zuhause rundum wohlfühlen.«

Es schmerzt, eine solche Floskel zu lesen, denke ich, als ich die Treppen hochsteige. Wenn sie wenigstens einen Tag im Jahr dazu beitragen würden. Dann könnte ich mich über die Karte vielleicht freuen. Was mache ich jetzt damit? frage ich mich, als ich meine Wohnung betrete. Ich schmeiße sie weg.

Vielen Dank für die Glückwünsche.

Dann kontrolliere ich, ob das Wasser läuft, die Klingel geht und der Strom funktioniert. Alles ist in Ordnung, es ist wohl ein guter Tag.Robert Rescue

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