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Burgerbrutzeln und Backgammon
Jonathan Lethems Roman »Anatomie eines Spielers« ist eine wilde Erzählung über einen abgebrannten aber talentierten Zocker
Ein Dutzend Romane hat der in Brooklyn lebende Jonathan Lethem mittlerweile geschrieben. Die Literaturkritik misst den 1964 geborenen Autor gerne an seinen großen Erfolgen, dem popkulturellen Brooklyn-Opus »Festung der Einsamkeit« (2003) und dem genialen New York-Roman »Chronic City« (2009). Die letzten Bücher Lethems fanden bei Publikum und Kritik dagegen nicht ganz so guten Anklang.
Der jetzt frisch auf Deutsch erschienene Roman »Anatomie eines Spielers« ist im amerikanischen Original bereits vor fünf Jahren herausgekommen, »Der wilde Detektiv« (2018) wurde wegen seines Bezugs zur Trump-Wahl bei der deutschen Übersetzung vorgezogen. Dabei ist »Anatomie eines Spielers« ein durchaus faszinierendes Stück Literatur, ein wildes, fast operettenhaftes Popkultur-Drama, das in Berlin, Singapur und im kalifornischen Berkeley angesiedelt ist. Im Zentrum der Geschichte steht Bruno Alexander, der als professioneller Backgammon-Spieler für gewöhnlich reichen Männern das Geld aus der Tasche zieht. Das hat aber ein abruptes Ende, als er bei einem Spiel in Berlin plötzlich am Tisch zusammenbricht und in die Charité eingeliefert wird, wo ein zwar gutartiger, aber dennoch auf Dauer lebensbedrohlicher Tumor in seinem Kopf diagnostiziert wird.
Seine einzige Chance, so wird ihm erklärt, liegt in einer Operation, die nur ein Spezialist in Berkeley durchführen kann. Nur wie soll der mittlerweile pleite gegangene Bruno in die USA kommen, nachdem sogar sein Gepäck im Charlottenburger Hotel wegen nicht bezahlter Rechnungen einbehalten wird? Die letzte Rettung ist sein verhasster Schulfreund Keith Stolarsky, dem er einige Zeit zuvor in Singapur über den Weg gelaufen ist. Der kulturlose Neureiche und notorische Besserwisser hat in Berkeley mittlerweile ein Vermögen gemacht mit Immobilien, Burgerläden, Elektroramsch und Discounterklamotten.
So überwindet sich der stets in feinen Zwirn gekleidete Smokingträger Bruno und bittet Keith Stolarsky um Hilfe, der ihm prompt ein Flugticket schickt, ihn in einem Apartment in Berkeley wohnen lässt, seine sündhaft teure Operation bezahlt und ihn außerdem mit Discounterklamotten einkleidet. Zu allem Überfluss soll Bruno, der mit Keith› Ehefrau anbändelt, auch noch in einem Fast-Food-Laden arbeiten und Burger verkaufen. Das alles, nachdem ihm der geniale, ausschließlich zur Musik von Jimi Hendrix operierende kalifornische Hippie-Arzt den Schädel geöffnet und erfolgreich den Tumor entfernt hat.
In »Anatomie eines Spielers« verarbeitet Jonathan Lethem, der 2014 als Gast der American Academy einige Monate in Berlin verbrachte und im Gartenhaus der Stiftungs-villa am Wannsee wohnte, Eindrücke seines Aufenthalts an der Spree.
Im Gegensatz zu Berlin, wo Bruno in einer Kladower Villa Backgammon spielt und auf der Fähre dorthin eine Frau namens Madchen kennenlernt, steht das subkulturell geprägte Berkeley. Von dort stammt Bruno ursprünglich, wobei er irgendwann vor seinen in einer Kommune lebenden Hippie-Eltern geflohen ist. Dorthin, ins Mekka der linken Subkultur zurückzukehren, fällt ihm, der sich gerade noch im ordnungspolitisch restriktiven Singapur wohlfühlte, nicht leicht. Zumal er mit der Operation jenen Tumor entfernt, der bisher zwar sein Sehfeld einschränkte, sodass er immer einen blinden Fleck besaß, der aber nach seiner Meinung auch hellseherische Fähigkeiten erzeugt, die er für sein professionelles Backgammonspiel braucht.
Diese Prise Fantastik ist, wie bei Jonathan Lethem üblich, wohldosiert in eine realistische Erzählung eingebettet. Dabei erinnert der Roman in seiner Art einer comichaften anarchischen Ironie, mit dem Aufgebot an skurrilen popkulturellen Charakteren und der bis ins kleinste Detail ausführlich beschriebenen mehrstündigen Operation Brunos stilistisch und motivisch immer wieder an die Literatur von Thomas Pynchon.
Für deutsche Leser dürfte natürlich die Darstellung Berlins von Interesse sein, das als eher ruhiges Terrain zum gediegenen Spazierengehen geschildert wird, in dem sich dann aber auch die eine oder andere Skurrilität verbirgt. Aus Berlin nimmt Bruno schließlich sogar in seinem Backgammon-Köfferchen einen Pflasterstein mit und schmeißt ihn einige Wochen später in die Scheiben einer kalifornischen Villa am Tag des People‹s-Park-Riot, der auf einen Jahrestag der kalifornischen Studentenproteste der späten 1960er zurückgeht und der deutsche Leser ein wenig an die Krawalle am Kreuzberger 1. Mai erinnern wird. Denn bald freundet sich Bruno in Berkeley mit den linksradikalen Feinden des verhassten Unternehmers und miesen Arbeitgebers Keith Stolarsky an. Daneben geht es in diesem Roman ganz stilecht um die richtige oder falsche Fast-Food-Kultur, um jede Menge Gentrifizierung und den Umbau kalifornischer Städte, um Anarchismus und Straßenmilitanz, um Popmusik und um jede Menge Backgammon. Ein buntes und rasantes Stück Literatur.
Jonathan Lethem: »Anatomie eines Spielers«, Tropen bei Klett Cotta,geb., 432 S., 25 €.
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