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Nur das Messer weint
»Richard the Kid & the King« nach Shakespeare feierte am Deutschen Schauspielhaus Hamburg Premiere
Wo sich etwas auftut, will der Mensch hinein. Oder er muss. Hier ist es der offene Plastesack, der über den Kopf gezogen wird: die Tüte Tod gegen einen trotzig aufkommenden Atem. Immerhin, man kann das Ersticken sehen. Das ist die Transparenz des Terrors. Über der Bühne, der großen dunklen Spielscheibe, hängen zahllose leuchtende Kugeln. Wie Sprechblasen des Alls - die Kernauskunft der Planeten verkündend: Wir schweigen. Unten ist die Menschenwelt. Für Richard das Universum, das immer größer, immer leerer wird. Das Universum - seiner Angst vorm Leben, der Angst, die nach vorn flieht. Mit offener Klinge. Von Mord zu Mord. Tränenlos. »Nur mein Messer weint.« Blut tropft.
Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg inszenierte die Regisseurin Karin Henkel »Richard the Kid & the King« (Bühne: Katrin Brack), William Shakespeare verwoben mit Tom Lanoyes Texten aus »Schlachten!«, jenem sechsteiligen Zyklus nach Shakespeares Rosenkriegen. Vor über zwei Jahrzehnten wurde diese in der Regie von Luk Perceval zu einer Hamburger und Salzburger Grandiosität. Eine aufgekratzte Chronik: wie der Mensch, Geschichte machend, aus dem Mythos fester Gottgegebenheit in die Gosse rutscht. Theater als albtraumgeleitete Verhängnisrechnung. Stammbäume werden ins Sägewerk der Montage geschoben. Aus Shakespeare wird Tarantino, aus weit greifender Sprache anglo-amerikanische Pressluft, in geborenen Königen stecken Natural Born Killers.
In dieser Inszenierung pocht, peitscht, paradiert ein Theatergruselgeist vom Feinsten und Gröbsten zugleich. Ein trümmergieriges Abtötungsverfahren. Eine Mechanik, die so bestürzt, wie die Beckmann uns auch lachen macht. Lina Beckmann - atemberaubend! - ist Richard III., ist zunächst Richy, »ich kleiner Krüppel«, geboren schon mit Zähnen. Sie kräht: »A Kingdom for a Horse!«, das berühmte Zitat, anfangs und später, am blutigen Ende: nur Anlass für ein Schaukelpferd, auf dem Richard zum Sturmritt ansetzt. Zeitlupe für einen Zombie. Beckmann, zerweicht und verhemmt, zeigt uns, dass Scham die Ozonschicht des Individuums ist. Aber was, wenn der von Missachtung getroffene Mensch entblößt dasteht in seiner Unterlegenheit? Als Schutz bleibt Aggression, die irgendwann alles nieder- und jeden aufreißt. Einer der Lords als Fleischbank: Därme sind diesem rasenden Richard schmiegsame Girlanden.
Beckmann tobt, triumphiert, tuschelt, tönt, tapst, trampelt, tanzt den Elvis. Jede Zärtlichkeit ist ein Petting mit dem Tod. Hochvers wird Sprachdreck. Worte werden gekaut wie Cheeseburger, ein Spuckebrei aus Englisch und Deutsch. Dirty Rich Modderfocker der Dritte. Büchsenbier scheppert selbstbewusst, als hieße es Shakesbier.
Übergangslos wird der Geduckte beweglich wie ein Gummi. Er spielt nur, was alle wollen: den Betrug, denn die Versehrten sind im Grunde die anderen. Sie buckeln. Fügsamkeit verkrüppelt wie nichts sonst. Der Hofstaat lauernd schmierig, starr klemmend zwischen Moral und Mitläufertum. Der Sklave macht den Herrn. Geiz an Charakter ist geil. Das Königtum als Vorläufer der wahren Volks-Republik: Jeder wird schuldig.
Das Konstrukt der Inszenierung ist kein geheimnisvolles Gebäude mit verbotenen Zimmern, eher eine übersichtlich ausgebreitete Siedlung, in der gerade eine Gauklertruppe gastiert. Aber Hölle ist überall, und diese hier ist Weideland: Schauspielkunst grast ab - aber wie! Überwältigung im Theater ist schöner als Erkenntnis, wo man doch meist nur fordert, was man schon weiß. Neben Beckmann spielt der zartknochige, durchfeinte Kristof Van Boven König, Prinz und Lady gleichermaßen. Bettina Stucky, Kate Strong: Klüngelbrüder, Klageweiber. Taff oder tränig, tänzerisch oder tropfig - Richards Messer hält das nicht lange aus.
Wer eben König war, ist nun Kadaver. Wer eben starb, wird auferstehen. Wer eben fürstlich lachte, liegt plötzlich in der Lache. Wer eben siegessicher schrie, ist nun verschrien. Rascher Rollentausch mischt die Geschlechter auf, aber alles ohne den konjunkturellen Identitätseifer. Beckmann bastelt an Buckel und Hinkebein, Spiel will in Körper, die einem fremd sind.
Shakespeares Gestalten sind keine entschlossenen Sucher nach sich selbst, nein, eine Falltür klafft jedes Mal auf. Das ist ehrlich, denn kein Mensch findet das eigene Selbst, nein, man stürzt in ein inneres Unding. Der Mensch sieht sich stets unvorbereitet für die Aufklärung über den eigenen Zustand. Es muss erst etwas über ihn hereinbrechen. Das alles soll ich mir von einem Mörder sagen lassen? Ja, denn Missionare stoßen nicht weniger ab, auch Belehrungseifer ist Mord - am Denken. Das Gleichnis namens Richard: So wie uns das pure Schöne reizt, so hat auch das pure Ungeschlachte eine Anziehungskraft. Dieser Mörder da ist glotzender Abschaum (»ich schwitze wie ein Schwein«), aber auch ein armer Mensch. Lina Beckmann geht bezwingend weh - und witzig - auf Kreatour. Ja, die schlimmen Schlingel kitzeln uns. Das Große an Lina Beckmanns Spiel ist der Riss. Sie stolpert durch ein Wesen und versucht nicht, alles Unvereinbare zu verbinden. Ist sie ganz Kunst, ist Kunst dem Leben ganz nah.
»Richard III.« bleibt akut als Tragödie des radikal Einsamen. Bis zum ersten Mord gibt es Momente, da man ihm zustimmen könnte . Ja, nickt die Geschichte, das kenne sie. Unmerklich läuft das dann ab, aufsteigend, also abgrundwärts. Man muss bloß regelmäßig die Gespräche mit dem eigenen Gewissen ausschlagen. Wie schnell man doch weiter und höher kommt, immer weiter weg von sich selbst. Der Höhenfluch. Der gewöhnliche Wahnsinn eines verfluchten Sieges ist der Sieg des Menschen über sein eigenes Vorwarnsystem.
Im himmelhohen schwarzen Loch dieser Aufführung, das Echos zurückwirft, dröhnt der gesamte Hohlraum Geschichte, in dem auch wir Heutigen umherstolpern. Zuversicht heißt nichts mehr erwarten, aber mit allem rechnen. Richard ballert sich mit einem Sturmgewehr zum Stückschluss. Oben Glitzerjackett, unten fader Flanell; nichts passt, aber alles stimmt. Er hat bald keinen Körper mehr, nur einen angstvollen Wanst. Die Macht ist nicht mehr ein Instrument, das Fakten schafft, nur ein immerwährend blödes, stumpfes, belferndes, blubberndes Fuck, Fuck, Fuck, das aus einem stumpf-stieren Gesicht fällt. Oder es faselt fies lächelnd von »flachen Hierarchien, Frauenquote«.
Shakespeare, das sind Tote, die in den zitternden Gedächtnissen der Lebenden kein Grab finden, der Mensch im Urgrund seiner Vergröberungen und Verfeinerungen. »Alle Kunst kroch in die Brust der ewigen Figur.« (Volker Braun) Als wären Jahrhunderte Minuten und Ewigkeiten Sekunden. Der Mensch erfand die Kriechspur, nicht die Schnecke.
Richard kumpelt mit uns Zuschauern, schmeckt gaumig die eigene Grauenhaftigkeit ab. Und doch ist diese Wendung eine vorgetäuschte. Sie bleibt in jedem Moment nur ein Kontakt zu jenem Nichts, aus dem alles kommt. Richard spricht mit dem Nichts, das Nichts hört zu und antwortet.
Nächste Vorstellungen am 19. und 27.9. sowie am 1.10.
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