Zukunftsvisionen und Skepsis

Vor 100 Jahren wurde der polnische Schriftsteller und Philosoph Stanisław Lem geboren

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.

Gewissen extremen Versionen zufolge soll ›Lem‹ sogar ein Mensch sein. Nun weiß aber jeder, der sich auch nur ein wenig mit der Geschichte der Kosmonautik befasst hat, dass LEM die Abkürzung für die Bezeichnung LUNAR EXCURSION MODULE ist, das heißt für den forschenden Mondbehälter, der in den USA im Rahmen des ›Apollo-Projekts‹ (der ersten Landung auf dem Mond) gebaut wurde.» Dieses Zitat aus den «Sternentagebüchern» zeigt wesentliche Seiten des vor 100 Jahren geborenen polnischen Autors Stanisław Lem. Neben der Selbstironie hatte er auch ein Faible dafür, seinen Lesern Fallen zu stellen. Denn schließlich lautete die tatsächliche Abkürzung der US-Raumfahrtagentur Nasa für das Mondlandemodul der Apollo-Raumschiffe nur LM. Ob dieses Wortspiel auch eine Wurzel im früheren österreichisch-deutschen Namen seiner Geburtsstadt Lemberg (polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw) in der heutigen Westukraine hat, bleibt Spekulation. Dennoch dürften die Geschichte von Lwiw und die eigene Lebensgeschichte dort die in seinen Werken immer wieder aufscheinende Skepsis gegenüber der menschlichen Vernunft genährt haben, wurde doch der junge Lem dort Zeuge, wie die bereits unter polnischer Herrschaft zunehmend diskriminierten Juden nach der Eroberung durch Hitler-Deutschland massenhaft ermordet wurden.

Als Stanisław Lem am 12. September 1921 im damals seit zwei Jahren polnischen Lwow in einer jüdischen Arztfamilie geboren wurde, schien sein weiterer Lebensweg vorgezeichnet. Er sollte Arzt wie der Vater werden. Doch die Geschichte war dagegen. In der einstigen Hauptstadt der habsburgischen Provinz Galizien wechselten im Laufe seines Lebens noch dreimal die Herrscher. Lem muss das 1939 begonnene Medizinstudium nach der Besetzung durch Hitler-Deutschland unterbrechen und schlägt sich als Automechaniker durch. Als Lwow nach dem Krieg endgültig an die sowjetische Ukraine fällt, muss die Familie aus dem nun ukrainischen Lwiw auswandern, wo er sein Medizinstudium beenden konnte.

Das Erlebnis der konkurrierenden ukrainischen und polnischen Nationalismen im heimatlichen Galizien dürfte auf jeden Fall seine tiefe Abneigung gegen die rechtsnationale Politik der Brüder Kaczyński beeinflusst haben. Im letzten zu Lebzeiten publizierten Text - am 17. Februar 2006 in der «Allgemeinen Wochenzeitung» («Tygodnik Powszechny») - schreibt er jedenfalls: «Ich wollte mich mit dem Unglück befassen, das uns die Brüder Kaczyński bereiten, die extrem rechten Überzeugungen, die in Polen in letzter Zeit zum Vorschein kamen, gefallen mir überhaupt nicht.» Von den Linken freilich war Lem ebenso wenig begeistert, warf er ihnen doch vor, den Bestrebungen nach Unabhängigkeit der ostmitteleuropäischen Staaten - nach Lem «sowjetischen Protektoraten» - zu wenig Beachtung und Unterstützung entgegengebracht zu haben, wie der Mainzer Polonist Alfred Gall in seiner gerade erschienenen Lem-Biografie schreibt. Lem selbst ging, wie sich sein Sohn Tomasz erinnert, kaum auf die bis in die Zeit des österreichischen Galizien zurückreichende Geschichte der jüdischen Familie Lehm (bereits von den Eltern zu Lem polonisiert) ein.

Das Medizinstudium schloss Lem ohne Staatsexamen ab - nach eigener Aussage, weil er nicht als Militärarzt eingezogen werden wollte. Sein weiterer Weg legt allerdings nahe, dass ihm ohnehin weniger an der ärztlichen Tätigkeit als an Forschung gelegen war. Seine Tätigkeit als Assistent an der Uni Krakau und als Redakteur einer wissenschaftlichen Zeitschrift brachte ihn bereits zu Hauptthemen seines späteren literarischen Schaffens: Informationstheorie und Kybernetik. Das Intermezzo der universitären Forschung endete allerdings schon 1950, weil zum einen sein Chef aus ideologischen Gründen abgesetzt wurde und er selbst wegen seiner Ablehnung der Lehren des sowjetischen Agronomen Lysenko nicht mehr in der Zeitschrift schreiben durfte. Wovon also leben?

Lem hatte parallel zur Arbeit an der Uni schon länger geschrieben. So hatte er 1946 noch in Lemberg den Roman «Der Mensch vom Mars» geschrieben, der 1948 in einer Zeitschrift in Katowice erschien. Und der 1948 geschriebene Roman «Das Hospital der Verklärung» (DDR-Titel «Die Irrungen des Stefan T.») war vermutlich der erste Roman über das Euthanasie-Programm der Nazis. Zugleich findet sich in diesem frühen Werk bereits ein Grundthema Lems: die Janusköpfigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Einen Verlag fand das Buch allerdings erst nach einiger «ideologischer Hobelarbeit» (Lem).

Erst die Begegnung mit einem Warschauer Verlagsdirektor im Schriftsteller-Ferienheim in Zakopane brachte die endgültige Hinwendung zur Science-Fiction. Mit ihm diskutierte Lem den Mangel an fantastischer Literatur in Polen und bot an, diesem abzuhelfen. Dabei dürfte die damals in sozialistischen Ländern verbreitete Ablehnung der amerikanischen Genrebezeichnung durchaus Lems Gefallen gefunden haben. Für seine Werke bestand Lem darauf, dass sie Literatur mit Wissenschaft verbinde und deshalb treffend «wissenschaftliche Phantastik» genannt würde. Lem selbst schrieb später: «Ich vermute aber, und das ist schon sehr gewagt, dass ich deswegen SF zu schreiben anfing, weil sie sich mit der Gattung Mensch (oder gar: mit den möglichen Gattungen vernünftiger Wesen, von denen eine der Mensch ist) befasst oder: befassen soll, und nicht mit irgendwelchen Einzelpersonen, seien es Heilige oder Ungeheuer.»

Dennoch bleiben seine ersten Romane nach dem Gespräch in Zakopane - «Die Astronauten (DDR: »Der Planet des Todes«) und »Die Magellansche Wolke« (dt. »Gast im Weltraum«) - noch relativ konventionell. Beide Romane wurden verfilmt, »Der schweigende Stern« (1960) war der erste Science-Fiction-Film der Defa. Allerdings war Lem von dieser wie von fast allen späteren Verfilmungen schwer enttäuscht.

Folgerichtig ist in dem Gesprächsbuch »Lem über Lem« von Stanisław Bereś ein ganzes Kapitel »Filmischen Enttäuschungen« gewidmet. Versuche, eigene Drehbücher zu Verfilmungen beizusteuern, scheiterten teils am Weggang der interessierten Regisseure nach der antisemitischen Kampagne der polnischen Führung im Jahre 1968, teils an zu knappen Budgets. Heftig war Lems Kritik an zwei Verfilmungen seines wohl berühmtesten Romans »Solaris«. Dem sowjetischen Regisseur Andrej Tarkowski warf er vor, das eigentliche Thema das Buches - die Unmöglichkeit, eine fremdartige Intelligenz zu verstehen - ignoriert und daraus eine »sentimentale Gefühlstunke« gemacht zu haben.

Neben den Science-Fiction-Romanen und -Erzählungen widmet sich Lem publizistisch bereits in den 60er Jahren wieder der Wissenschaft. 1964 erschienen seine »Summa Technologiae«, eine Auseinandersetzung mit der damals modernen Futurologie im halb literarischen, halb wissenschaftlichen Gewand. Lems eigene Zukunftsvisionen in dem Buch hatten eine erstaunliche Trefferquote - wir verdanken dem Buch solche »Erfindungen« wie die virtuelle Realität (bei Lem »Phantomatik«). Zudem erwartete Lem schon damals den Einzug der Gentechnik (»genetische Ingenieurkunst«) in die Medizin und prophezeite die Informationsüberflutung des Internetzeitalters (»die Megabit-Bombe«). Und das, obwohl Lem selbst dieses Buch als »Skeptiker der Futurologie« schrieb, wie er im Vorwort zur DDR-Ausgabe anmerkt.

In seinen späteren Jahren - sein letzter Roman »Fiasko« erschien bereits 1986 - zeigte sich Lem in Zeitschriftenartikeln, Interviews und Essays zunehmend pessimistisch. So begründet er mit Ergebnissen der Evolutionsforschung, dass es einen wirklichen Fortschritt in der natürlichem Evolution nicht gebe. Und erklärt wiederholt - sei es beim Internet oder der modernen Gentechnik -, dass die Menschen von ihren Erfindungen meist schlechten Gebrauch machen.

Im Interview meinte er zu Plänen bemannter Marsflüge einmal, »man sollte sich lieber darum bemühen, die irdischen Probleme in den Griff zu bekommen. Vielleicht gibt es noch eine kleine Chance, bevor wir nach den Mammuts und Walen uns selbst ausrotten, auch wenn ich daran zweifele. Scheinbar mögen wir das Morden einfach. Die menschliche Geschichte gleicht einem Ozean aus Blut, und dass wir nun auch noch daran arbeiten, die Lebensspanne künstlich zu verlängern, ist der Gipfel des Hohns.«

Auf seinen Grabstein auf dem Krakauer Salwator-Friedhof ließ Lem gravieren: »Feci, quod potui, faciant meliora potentes.« (Ich habe gemacht, was ich konnte, mögen die es besser machen, die dazu imstande sind.)

Alfred Gall: Stanisław Lem. Leben in der Zukunft. wbg Theiss. 272 S., geb., 25 €;

Tomasz Lem: Zoff wegen der Gravitation. Oder: Mein Vater Stanisław Lem. Harrassowitz-Verlag. 148 S.,br., 22 €.

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