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Appetitverderber Corona
DAK-Report: Mehr Kinder mit Essstörungen im ersten Pandemiejahr
Kinder und Jugendliche leiden weniger häufig an einer Infektion mit Sars-CoV-2, in der Regel verläuft eine Ansteckung bei ihnen mit leichten Symptomen oder sogar unbemerkt. Worunter die Heranwachsenden aber wirklich leiden, das sind die gesellschaftlichen Verwerfungen im Zuge der Pandemie-Maßnahmen. Alarmsignale dafür gab es schon einige, jetzt mehren sich die Befunde.
Wissenschaftler der Universität Bielefeld schauten sich im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit anonymisierte Krankenhausdaten von 800 000 Kindern und Jugendlichen im Alter bis 17 Jahren an. Verglichen wurden die Klinikaufenthalte 2020 mit denen im Jahr 2019. In diesem Kinder- und Jugendreport zeigte sich unter anderem: 2020 wurden 60 Prozent mehr Mädchen und Jungen aufgrund einer Adipositas behandelt. Die Zahl junger Patienten mit starkem Untergewicht stieg um mehr als ein Drittel. Auch Essstörungen wie Magersucht und Bulimie nahmen um mehr als ein Drittel zu.
Der Fokus auf diese Gruppe von Erkrankungen zeigt, dass hier gehörig etwas aus dem Lot geraten ist. Die Lockdown-Zeiten haben ihren Teil dazu beigetragen, dass die Mädchen und Jungen weniger an der Schulspeisung teilnehmen konnten, mehr Zeit mit Handy, Fernseher oder Spielkonsole verbrachten als sonst schon, weniger Kontakte mit Gleichaltrigen und weniger abwechslungsreiche Tagesstrukturen hatten. Zudem waren selbst über die engeren Lockdown-Phasen hinaus viele Hilfs- und Freizeitangebote entweder stark reduziert oder völlig lahmgelegt, von Sportvereinen bis hin zu ambulanten Therapien. Unterbrechungen in diesen Bereichen sind besonders für schon gefährdete Kinder schwerwiegend. Wenn Therapien monatelang nicht stattfinden können oder höchstens im Online-Modus, in dem guter persönlicher Kontakt weniger möglich ist, erscheinen sie den Betroffenen in der Folge kaum als überzeugende Hilfestellung, die gern angenommen wird. Negativ verstärkt wird das Ganze vermutlich in vielen Familien durch die psychische Belastung der Eltern durch die Pandemiebedingungen.
Die Quittung dafür findet sich in der starken Dynamik der Klinikbehandlungen bei psychischen Erkrankungen: Zwar wurde das Niveau von 2019 insgesamt gehalten, aber im Frühjahrs-Lockdown 2020 wurden über 30 Prozent weniger junge Patienten behandelt, im Herbst- und Winter-Lockdown waren es dafür etwa vier Prozent mehr. Auch bei Depressionen und Angststörungen zeigt sich ein ähnlicher Verlauf: in der ersten Schließungszeit 37 Prozent weniger stationär Versorgte in der Altersgruppe, danach ansteigende Zahlen, Ende des Jahres acht Prozent mehr bei diesen Krankheitsgruppen.
Stark unregelmäßige Behandlungshäufigkeiten sind auch bei der Typ-1-Diabetes zu beobachten: Nach einem Einbruch im Frühjahr um 28 Prozent lag die Zahl der Behandlungen im zweiten Lockdown 42 Prozent über jener im Vorjahr. Die Krankenhausdaten bieten jedoch nur einen Ausschnitt des Geschehens: Bis jetzt wurde nicht erhoben, welche Schulausfälle es gab, wie viele der behandelten Kinder Schuljahre nachholen, welche Entwicklungsverzögerungen über das Schulische hinaus die Pandemie am Ende für den Nachwuchs in allen Altersklassen gebracht hat. Auch, um allein auf die gesundheitlichen Auswirkungen zu reagieren, forderte DAK-Vorstand Andreas Storm bei der Vorstellung der Analyse von der künftigen Bundesregiung kurzfristig - noch im ersten Halbjahr 2022 - einen »Aktionsplan Kindergesundheit«. Dieser müsse auf die Situation in Familien, Kitas, Schulen und Vereinen eingehen.
Zwar gibt es auch einige positive Befunde in dem Kassenreport: Durch Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen sank in der genannten Altersgruppe (wie auch in anderen) die Zahl der stationär behandelten Infektionskrankheiten deutlich: Hier gab es 80 Prozent weniger virusbedingte Darminfektionen, 46 Prozent weniger Mandelentzündungen und ein Drittel weniger Fälle mit einer akuten Bronchitis. Bei den Infektionen müsse man jedoch mit einem »Nachholeffekt« rechnen, vermutet Eckard Hamelmann, Direktor der Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin in Bielefeld. Insgesamt habe sich das Krankheitsspektrum aber hin zu schweren Krankheitsverläufen und psychischen Begleiterkrankungen verschoben. Er warnte auch davor, angesichts von teils abnehmenden Behandlungszahlen die Angebote der Krankenhäuser schon zu reduzieren.
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