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Von der Tragödie zum TV-Triell
Der Zustand der Demokratie zeigt sich auch in ihrer medialen Inszenierung in Zeiten des sogenannten Wahlkampfs
Es ist eine altbekannte Geschichte: Vor knapp zweieinhalbtausend Jahren entwickelte sich in der Polis Athen etwas, das wir heute als Urform der Demokratie begreifen. Zur selben Zeit und auf demselben Breitengrad - also nicht ganz zufällig - entstanden die großen Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides, die die Grundlage des europäischen Theaters bis heute bilden. Der rituelle Charakter, der Glaube an die Möglichkeit der kollektiven Verständigung, die Feier der Gemeinschaft sind die Eigenschaften, die die attische Demokratie mit den antiken Tragödien teilt. Beides hat seinen Platz in den Geschichtsbüchern gefunden.
Dass die Demokratie westlicher Ausprägung heute in einer Krise steckt, ist eine alte Leier. Krise - das Wort geistert seit 30 Jahren durch die Redaktionen, schallt durch sämtliche Nachrichtenstudios und ruft in Diskussionen als Beschreibungsmerkmal für den politischen Zustand kaum noch Reaktionen jedweder Art hervor. Richtig ist die Aussage dennoch.
Eine Verwandtschaft der demokratischen Verfasstheit hierzulande mit der hohen Kunst der Tragödie ist natürlich kaum mehr zu sehen. Von Farce könnte viel eher die Rede sein. Vorbildhaft für die Bundesrepublik sind seit 1945 die USA, wo es eine hinlänglich bekannte Nähe gibt zwischen Washington und Hollywood, dem Markt, wo, nach Brecht, die Lügen verkauft werden. Nur dem Umstand, dass Deutschland den amerikanischen Entwicklungen ein paar Jahre hinterherhinkt, ist es zu verdanken, dass die Geschäfte im Kanzleramt heute noch nicht vorrangig twitternd geführt werden.
In den USA gibt es eine lange Tradition der politischen Debatten mittels Rededuell. Von einer Streitkultur, einem gewinnbringenden intellektuellen Austausch der Argumente zu sprechen, ist aber Idealisierung, letztlich ein Euphemismus. Hier ging es, erstaunlich einfältig, schon immer um die Länge der Redebeiträge und letztlich um die Erledigung des politischen Gegners. Wer Zweifel an der Primitivität dieser Form der »demokratischen« Auseinandersetzung hat, muss nur ein paar Minuten des TV-Duells zwischen Joe Biden und Donald Trump ansehen, um sich eines Besseren belehren zu lassen.
Das »Duellieren« politischer Gegner, beispielsweise auf Theaterbühnen, gehört in den USA zum ohnehin vollkommen kommerzialisierten politischen Geschäft und zum Wahlkampf dazu. Seit 1960 wird es als Politereignis im Fernsehen inszeniert, dem vorherrschenden Massenmedium in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Auch in der Bundesrepublik gab es schon bald einige zaghafte Anfänge. Politische Debatten wurden im Rundfunk übertragen. Konkurrenten, nicht nur im Kampf um das höchste Regierungsamt im Land, wurden unmittelbar aufeinander losgelassen. Die grundverschiedenen politischen Systeme der USA und der Bundesrepublik haben einen Zweikampf erst einmal eigentümlich erscheinen lassen, und so wurde die sogenannte Elefantenrunde geboren: das öffentliche Aufeinandertreffen der Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien, bei denen sich, durchaus einleuchtend, der Vergleich mit den dicken, zähen und ungestümen Rüsseltieren durchgesetzt hat.
Das Fernsehduell nach amerikanischem Vorbild kursierte zunächst nur als Idee - und wurde, zumeist von den Amtsinhabern, abgelehnt. Das änderte sich mit der Bundestagswahl 2002, als vor laufenden Kameras Edmund Stoiber und Gerhard Schröder zweimal aufeinanderstießen. Die Spektakel hatten beträchtliche Zuschauerquoten. Wenn man die TV-Ereignisse aus den digitalen Archiven hervorkramt, fällt zuerst auf, dass man trotz reißerischer Anmoderationen gewillt war, ein gewisses Niveau nicht zu unterschreiten. Zu politischen Fragen wurden gegensätzliche Positionen dargelegt, es gab keinerlei Verpflichtung zu besonders kurzen Ausführungen, die bloße Erwähnung von wirtschaftlichen Zusammenhängen oder die Darlegung von Zahlen führten nicht zum sofortigen Moderatoren-Veto, das könne der einfache Bürger nicht verstehen.
Die Hybris bei der Vernunftehe von Medien- und Politbetrieb zeigte sich schnell, als den Duellen das Attribut »wahlentscheidend« zugesprochen wurde. Man glaubte, im Anschluss an die TV-Streits einen »Sieger« ausmachen zu können. Den Wert an sich eines solchen politischen Schlagabtauschs wollte man gar nicht begreifen, sondern die mediale Erregungsmaschine am Laufen halten. Bei dem Wort Duell dachte man wohl zuallererst an russische Romane des 19. Jahrhunderts - am besten mit tödlichem Ausgang. Unterhaltungswert sticht Inhalt.
Dass bisschen Charisma, das Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder bei den TV-Duellen 2002 und 2005 noch aufwies, war spätestens mit der »Elefantenrunde« am Wahlabend 2005 dahin, als er, nah am Größenwahn, sich auch angesichts der Katastrophe siegesgewiss zeigte.
Die Politikmüdigkeit, sowohl vonseiten der Regierenden als auch des mehr oder minder interessierten Publikums, hält seitdem an und wird alle vier Jahre im Fernsehen zur Schau getragen. Performerqualitäten sind mehr gefragt als politische Ideen. Und auch dabei wird vor allem die performative Unauffälligkeit goutiert. Beim 2013 zwischen SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgetragenen Duell mündete dies in deren Diktum »Sie kennen mich!«, was in Zeiten des Stillstands auch angesichts der Katastrophe - vielleicht ist dem einen oder anderen die Griechenland-Krise noch erinnerlich - offenbar ausreicht, um die Geschicke eines Landes weiter in die falsche Richtung führen zu dürfen.
Die Mimen für die Duelle wechselten, und das Niveau sank weiter. Man pochte als vermeintlicher Anwalt des Fernsehpublikums auf einfache Antworten. Die Kontrahenten waren sich oft einig und mussten sich also nicht gegenseitig ins Wort fallen, was dafür die Moderatoren übernahmen. Dennoch gab es kaum wirklich kritische Nachfragen. Stattdessen ein Beharren auf möglichst genau gleiche Redeanteile. Der Unterhaltungskünstler Stefan Raab wurde in den Rang eines Politjournalisten erhoben. Die Fragen fanden teilweise aber auch ganz außerhalb bisher gekannter journalistischer Kategorien statt, und Merkel wurde gefragt, welche Schulnote sie Deutschland im Fach soziale Gerechtigkeit geben würde. Ganz so, als wäre die Sozialpolitik in diesem Land eine Fernsehquizshow.
Nun ist das Duell zum Triell geworden, und die Kandidaten Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz konnten bereits einmal im Fernsehen ihr Unvermögen zur Schau stellen. Der politische Jammerzustand muss nicht täglich neu beklagt werden. Aber wir stecken auch in einem polit-ästhetischen Dilemma. Rhetorisch vollkommen unbegabt, reden die Kandidaten sich um Kopf und Kragen, flankiert von tendenziösen Fragen der Fernsehjournalisten. Wer glaubt, es gehe nicht schlimmer, der sei auf die quotengeilen komplementären Wahlformate verwiesen. Zum Beispiel auf eine Sendung mit dem dümmlichen Titel »Wahlarena«, bei der die Kandidaten sich einzeln Zuschauerfragen stellen. Annalena Baerbock durfte sich im Rahmen dieser öffentlich-rechtlichen Offenbarung Komplimente für ihre Schuhe anhören. Wenn so volksnahe Politik aussieht, möchte man doch lieber darauf verzichten.
»Der ganze Wahlkampfdreck stammt von Idioten mit Abitur. Dagegen ist jeder Porno-Rapper aus dem Plattenbauviertel Shakespeare«, hielt Dietmar Dath bereits 2009 fest. Es hat sich nichts geändert. Es gibt keinen Grund, in Defätismus zu verfallen. Die Verhältnisse sind, wie sie sind. Und natürlich sollte man sich noch schleunigst überlegen, wer denn nun wirklich als kleineres Übel durchgehen kann. Aber bitte mit etwas Nüchternheit. Künstliche Aufgeregtheit und wie ein Glaubensmantra vorgetragene Erfindungen wie »Wechselstimmung« sollte man dem Fernsehen überlassen.
»Einmal, alle vier Jahre, da tun wa so, als ob wa täten … diß is ein scheenet Jefiehl!«, legte Kurt Tucholsky einem älteren, aber leicht besoffenen Herrn in seinem gleichnamigen Text in den Mund. »Halten Sie die Fahne hoch! Hie alleweje! Un ick wer Sie mal wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch … rejiert wern wa doch … Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes! Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute Nacht -!«
Die nächsten »Kanzler-Trielle« werden am Sonntag, 12.9., 20.15 Uhr, ARD/ZDF und am Sonntag, 19.9., 20.15 Uhr, Sat.1/ProSieben/Kabel Eins ausgestrahlt; eine »Elefantenrunde« ist zu sehen am Donnerstag, 23.9., 20.15 Uhr, ARD/ZDF.
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