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Wie aus dem Mädchen eine Mutti wurde
Kanzlerschaften Peter Zudeick beäugt eine Männer-Riege - bis zur ersten Frau im Amt: Angela Merkel
Ich bin beharrlich, ich bin nicht dumm, und ich traue mir auch was zu.« Das mag minimalistisch klingen, passe aber, kommentiert der Journalist Peter Zudeick diese Selbsteinschätzung der Bundeskanzlerin. Nüchtern, pragmatisch, solide, analytisch, hart, zäh, ausdauernd, integer und loyal - diese Eigenschaften würden Freund wie Feind Angela Merkel attestieren.
»Chronisch unterschätzt« überschrieb der Autor das der Pfarrerstochter aus dem uckermärkischen Templin gewidmete Kapitel in seinem neuen Buch. Tatsächlich wurde sie von der männerdominierten CDU, in die die Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs des Herbstes 1989 vielleicht eher zufällig stolperte, selbstherrlich und selbstgefällig unterbewertet. Zum Glück, möchte man fast meinen. Nicht nur, dass erstmals an die Spitze der Macht in der Bundesrepublik Deutschland eine Frau gelangte. Jahrzehnte nachdem in solcher Verantwortung Geschlechtsgenossinnen in Ländern der sogenannten Dritten Welt (mehr oder weniger) erfolgreich reüssiert hatten, wie etwa Indira Gandhi oder Sirimavo Bandaranaike. Das heute sich gern als Frauenrechtevorkämpfer gerierende Deutschland hinkte also diesbezüglich nicht nur skandinavischen Ländern hinterher.
Ziemlich derbe Machos waren auch alle Männer vor ihr im Kanzleramt, die ärgsten zweifellos die mit CDU-Parteiausweis. Dass Helmut Kohl selbst die bereits Ministerposten wahrnehmende Ostdeutsche nur »Mädchen« nannte, zeugt unter anderem davon. Und doch hat ebenjene Frau nicht nur ihre Partei, sondern das ganze Land verändert, nicht »sozialdemokratisiert« oder »linksliberalisiert«, wie nicht wenige Parteikollegen wehklagten und Journalisten anklagten. Sie hat Deutschland modernisiert und demokratisiert wie kein Mann vor ihr. Was sich natürlich maßgeblich dem Druck von links im Parlament wie auch auf den Straßen und Plätzen der Republik, dem Erstarken einer zunehmend selbstbewussteren Zivilgesellschaft verdankt.
Dies explizit zu benennen, vermisst man bei Zudeick, der ansonsten die Fortschritte in der Merkel-Ära zu würdigen weiß. Für den Autor ein besonders schönes Beispiel: »Als Angela Merkel in die Politik ging, galt die Betreuung von Kleinkindern in Krippen und Tagesstätten noch als sozialistisches Teufelswerk. Immer nach dem Motto: ›Die Kinder gehören den Eltern und nicht dem Staat.‹« Hinzugefügt sei: Hier mag ihre Sozialisation in der DDR durchaus eine Rolle gespielt haben. In anderen Belangen bockte und blockte die Christdemokratin lange, so hinsichtlich der Gleichstellung von schwulen und lesbischen Lebensgemeinschaften.
Merkel habe Positionen und Überzeugungen als CDU-Chefin und Kanzlerin wie andere die Socken gewechselt, zitiert Zudeick einen Vorwurf aus konservativen Kreisen. Und antwortet: »Die Feststellung stimmt, aber der Vorwurf wäre nur berechtigt, wenn man bei Angela Merkel schon mal Positionen und Überzeugungen hätte diagnostizieren können.« Womöglich war gerade dies ihr Erfolgsrezept? Hat sie sich damit durchmogeln, durchboxen können bis ganz nach oben? Zudeick erinnert: »Als Frauenministerin hat sie brav das getan, was von ihr erwartet worden war, hat beim § 218 nicht gegen die Parteiräson aufgemuckt, hat das Gleichstellungsgesetz so butterweich formuliert, dass die Patriarchen nicht nervös werden mussten.« Da machte sich ihre DDR-Sozialisation nicht bemerkbar. Und: »Als Umweltministerin hat sie sich durch Bienenfleiß und schnell erworbene Kompetenz Respekt bei Freund und Feind erworben. Hat aber auch gezeigt, dass Hartnäckigkeit zur Halsstarrigkeit werden kann.«
Warum der Autor jedoch ihre, als Physikerin sicherlich empirisch fundierte und durch Fukushima bekräftigte Überzeugung, für den Ausstieg aus der Atomenergie einzutreten, mit »ideologischer Verbohrtheit« und »missionarischem Eifer« diskreditiert, bleibt sein Geheimnis. Letztlich beugte sich Merkel aber erneut den Lobbyisten.
Zudeick ist zuzustimmen: »Als Strategin, politische Denkerin, gar Vordenkerin ist sie nie aufgefallen.« In politischen Debatten habe sie nie eine Rolle gespielt. Interessanterweise verweist der Autor auf die »Rote Socken«-Kampagne von CDU-Generalsekretär Peter Hintze 1994 gegen das »Magdeburger Modell«, eine PDS-tolerierte SPD-Minderheitsregierung. Da habe Merkel »sich differenziert geäußert, hat immer dafür plädiert, SED- und PDS-Wähler nicht pauschal zu diffamieren«. Dafür wetterte sie umso heftiger dieser Tage im Bundestag gegen eine mögliche Koalition mit der Linkspartei. Ein Zeichen dafür, wie tief die Union gesunken ist in des Wählers Gunst und wie verzweifelt man ist.
Um Merkels Politik insgesamt beurteilen zu können, so Zudeick, müssten die fünf großen internationalen Krisen während ihrer Kanzlerschaft bedacht werden, auf die der Autor ausführlich und akribisch eingeht: die Finanzkrise 2008, die folgende und damit zusammenhängende Eurokrise, Fukushima, die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 und die Coronakrise. Die Karriere der Angela Merkel vom »Mädchen« zur »Mutti« der Nation resümiert Zudeick als unbedingten, unbeirrbaren politischen Machtkampf. Wohl wahr.
Dies ist indes kein Merkel-Buch, von denen es bereits viele und bald noch mehr geben wird, meist hofierend. Es ist ein sachlich-solides und erkenntnisbringendes Kaleidoskop bundesdeutscher Kanzlerschaften seit 1949. »Was allen gemeinsam ist: Irgendwann ist der Lack ab. Selbst die erfolgreichsten Kanzlerschaften enden in Deutschland irgendwie mit schalem Beigeschmack«, konstatiert Zudeick. Konrad Adenauer wurde nach 14 Jahren von den eigenen Leuten aus dem Amt gedrängt. »Vor allem auch, weil er partout nicht gehen wollte und jeden möglichen Nachfolger für unfähig hielt.« Besonders Ludwig Erhard, den Vater des »Wirtschaftswunders«, der als Kanzler innen- und außenpolitisch scheiterte. Sein Nachfolger, Alt-Nazi Kurt Georg Kiesinger, begriff sich selbst als »Übergangskanzler« und stürzte über seine Verstrickung in NS-Verbrechen. Der erste sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt wurde »Opfer von Intrigen und Hinterhalten seiner eigenen Leute, denen die Guillaume-Affäre gelegen kam«. Helmut Schmidt, »mehr und mehr umstritten in der eigenen Partei«, wurde vom Koalitionspartner FDP aus dem Amt geputscht.
Helmut Kohl war fast schon gescheitert, als ihn die deutsche Einheit rettete. »Aber er versäumte es - wie Konrad Adenauer -, einen Nachfolger aufzubauen.« Die Spendenaffäre fegte ihn hinweg und eröffnete die Chance für die bis dahin unbeachtete Frau aus dem Osten. »Gerhard Schröder brachte es fertig, in seiner zweiten Amtszeit geradezu um seine Abwahl zu betteln: Ohne Not stürzte er sich in Neuwahlen und verlor. Auch hier war der schwindende Rückhalt in der eigenen Partei - Stichwort Agenda 2010 - ein wichtiger Anlass für den Niedergang«, bemerkt Zudeick.
Das rechtzeitig vor der aktuellen Bundestagswahl erschienene Buch wird deren Ergebnisse nicht beeinflussen, sei aber zur Lektüre empfohlen als ein profunder Einwurf, der die Einordnung der schließlichen Ergebnisse zu befördern vermag.
Peter Zudeick: Verbrandt, verkohlt und ausgemerkelt. Vom Ende deutscher Kanzlerschaften. Westend, 200 S., br., 14,99 €.
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