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Weg vom »Genie an der Spitze«
Die Intendantin am Schauspiel Dortmund, Julia Wissert, setzt auf Teamarbeit statt Alleinherrschaft
Seit ziemlich genau einem Jahr sind Sie jetzt Intendantin am Schauspiel Dortmund, und die erste Spielzeit liegt bereits hinter Ihnen. Wie ist der Job so?
Ich habe in der Pandemie angefangen. In einer Ausnahmesituation. Und manchmal frage ich mich, wie Kolleg*innen, die diesen Job seit 25 oder 30 Jahren machen, ihn wohl wahrnehmen. Wir haben trotzdem geprobt und hinter den Kulissen und im digitalen Raum gearbeitet. Daher habe ich Rituale, aber noch keine Routinen. Jeder Tag ist anders.
Was war durch die Pandemie anders?
Wir hatten in der letzten Spielzeit viele Besprechungen, weil es Lieferengpässe mit Materialien gab. Der Preis von Holz ist während der Pandemie extrem gestiegen ist. Das klingt vielleicht nicht nach einem typischen Theaterproblem, doch für unsere Bühnenbilder ist das eine einschneidende Entwicklung. Wir mussten also neu kalkulieren und überlegen, ob wir manche Teile aus anderen Materialien fertigen können.
Und wie sind Sie damit umgegangen?
Das Thema Nachhaltigkeit spielte schon vorher eine größere Rolle im Theater. Doch durch die Pandemie wurde es noch virulenter.
Eine Idee ist, dass sich Theater in Nordrhein-Westfalen zusammenschließen und ein Archiv mit abgespielten Bühnenbildern aufbauen. Wände zum Beispiel: Die meisten Produktionen brauchen Wände. Doch weil es keine Lager- und Transportmöglichkeiten gibt, werden die gebauten Wände nach Spielende häufig verschrottet. Es gibt bereits Initiativen in Nordrhein-Westfalen: Theater bringen Kulissen in ein zentrales Lager und können dort günstig Requisiten kaufen, um diese dann umzuarbeiten.
Ich möchte gerne noch einmal auf Ihre neue Aufgabe zurückkommen. Zuvor hatten sie als freie Regisseurin gearbeitet, haben unter anderem Stücke am Maxim-Gorki-Theater, am Nationaltheater Brno, am Staatstheater Oldenburg, am Schauspielhaus Bochum inszeniert. Nun sind Sie Intendantin am Schauspiel Dortmund – inwiefern ist die neue Rolle anders?
Das ist eine spannende Frage. Ich würde sogar eins weitergehen und sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob es derzeit so sinnvoll ist, inszenierende Intendantin zu sein. Weil ich den damit verbundenen Rollenwechsel als extrem herausfordernd empfinde. Sowohl für mich als auch für meine Kolleg*innen.
Als inszenierende Intendantin wechseln sie die Stühle, sind mal Regisseurin und proben mit dem Team, mal Intendantin, prüfen Zahlen, stellen ein, legen den Spielplan fest. Inwiefern ist das herausfordernd?
Klassischerweise waren Theater so aufgebaut: Es gibt eine Künstler*innen-Person, ein »Genie an der Spitze«, das alleine entscheidet, was alle anderen umzusetzen haben. Dann bin ich aber, wie gesagt, auch Regisseurin und somit gewohnt, im Team zu arbeiten. Gemeinsam mit Techniker*innen, Regieassistenz, Schauspielenden, Kostüm, Maske bin ich im Austausch darüber, wie sich ein Text am besten für die Bühne adaptieren lässt. Und das ist eine Praxis, die ich auf die gesamte Struktur übertragen möchte. So will ich auch meine Rolle als Intendantin verstehen. Klarzumachen, dass ich so leiten will. Das ist herausfordernd.
Wie sieht dieses Leiten aus?
Obwohl das »Genie an der Spitze« aufgelöst ist, gibt es trotzdem unterschiedliche Momente von Entscheidung. Am Ende kann ich doch ein Veto einlegen. Aber nicht, weil ich schlauer bin als die anderen, sondern einfach qua Struktur – weil ich letztlich doch die Chefin bin. Flache Hierarchien bedeuten nicht, dass es gar keine Hierarchie gibt. Sondern flache Hierarchie bedeuten unterschiedliche Verantwortungsbereiche und unterschiedliche Verantwortungsgrade. Ich habe einen Vertrag unterschrieben, dass ich die Verantwortung übernehme.
Jede Person im Haus ist also Expert*in für ihren jeweiligen Bereich. Geteilte Arbeit, geteilte Verantwortung und Augenhöhe?
Das ist der Versuch. Mal gelingt das mehr, mal weniger. Ich will nicht sagen, dass dieses Denken bisher nicht da war. Ich würde nur sagen, dass es nicht immer gewünscht war in Institutionen, weil mensch angehalten war zu funktionieren.
Seit den 90er Jahren sind die Theater noch mehr einer neoliberalen Marktlogik unterworfen worden, die das bestärkt hat. Für viele ist doch die Frage, warum wir uns davon überhaupt wegbewegen sollen. Denn das »Genie an der Spitze« ist einfach ein wahnsinnig schneller Arbeitsprozess. Und nicht jede Person will mehr Verantwortung. Das ist auch okay.
Und an dieser Transformation der Zusammenarbeit sind Sie jetzt dran ...
Ja. Aber wenn Sie mich nächste Woche fragen, dann sage ich vielleicht: Ein*e inszenierende Intendant*in ist das Beste, was dem Theater passieren kann, weil sie aus eigener Erfahrung die Besonderheiten eines Probenprozesses kennt. Wir stecken mitten in dem Versuch von Transformation und erfahren mit jedem Schritt, den wir gehen, mehr, was wir eigentlich brauchen und wo wir hinwollen. Außerdem mag ich es einfach, über die Strukturen nachzudenken. (lacht)
Sie beobachten und reflektieren gerne, überlegen, wo es hingehen könnte. Worüber denken Sie noch nach? Was inspiriert Sie?
Ich finde es zum Beispiel interessant, wie im englischsprachigen Raum Stücke entwickelt werden. Es gibt zwei Wochen Recherchephase, dann vier Wochen gemeinsames Schreiben, dann ein Treffen mit den Schauspieler*innen. Dann wieder Zeit, um zu schreiben, und dann kommt man erst in eine Endprobenphase. Dieser Prozess, die Offenheit und Genauigkeit, für einen Ort zu arbeiten, ist inspirierend.
Wenden Sie solche iterativen Prozesse auch bei Ihren eigenen Regiearbeiten an?
In der Produktion »Der Platz« von Annie Ernaux versuchen wir, uns dem Text so anzunähern. Wegen Corona mussten wir die Uraufführung in der letzten Spielzeit verschieben. Dadurch hatten wir extra Zeit, die wir für eine Recherchephase genutzt haben. Das war wirklich super.
Mit Expert*innen haben wir über Klasse, Klassismus und Kapitalismus gesprochen. Für uns als Team war es spannend, sich noch intensiver und mit mehr Zeit mit den Inhalten zu beschäftigen. Zu diesen Gesprächen haben wir auch das Publikum eingeladen, um Einblick in unsere Probenprozesse zu geben. In »Der Platz« setzt sich Annie Ernaux schonungslos mit ihrer eigenen Biografie auseinander. Es geht um soziale Herkunft und um die Überwindung derselben. Um Sprachlosigkeit.
Was war an dem Probenprozess besonders spannend für Sie?
Das Spannendste und auch Erschreckendste war, zu bemerken, dass ein Text, der fast 40 Jahre alt ist, für die Gesellschaft, in der wir gegenwärtig leben, nicht an Brisanz verloren hat. Es gibt einen Grund dafür, warum ich mich entschieden habe, 2021 in Dortmund Annie Ernaux auf die Bühne zu bringen. Das Buch ist die Geschichte ihres Bildungsaufstiegs und der Distanz, die dadurch zwischen ihr und ihrem Vater entstanden ist.
Die Recherche und Auseinandersetzung mit so einem Stoff sind sehr persönlich. Das haben die Dramaturgin Hannah Saar und ich von Anfang an mit den Schauspieler*innen besprochen. Seid ihr bereit für eine persönliche Recherche? Seid ihr bereit, Teile eurer Biografie dem Publikum zur Verfügung zu stellen, um eine Verbindung zwischen der Vergangenheit von Annie Ernaux und der Gegenwart in Dortmund herzustellen?
Ich habe das zum ersten Mal bei dem Theaterstück »Common Ground« (Regie: Yael Ronen) gesehen. Da haben die Biografien und Familiengeschichten der Schauspieler*innen auf der Bühne eine sehr große Rolle gespielt. Das hat mich damals sofort berührt und beeindruckt.
Mich interessiert, wie diese Geschichten eine Universalität entwickeln können: Wie kann ich die Vielzahl der Geschichten auf der Bühne sichtbar machen? Dass es nicht nur um ein individuelles Erleben geht, sondern um eine strukturelle Frage? Dann wird vielleicht auch klar, dass das Narrativ der Bildungsaufsteiger*in nichts ist, womit eine Gesellschaft sich brüsten sollte. Sondern vielmehr etwas, was unsere Alarmglocken klingeln lassen sollte.
Ja. Die Tatsache, dass wir Geschichten von sogenannten Aufsteiger*innen feiern, zeigt ja schon, dass wir nicht damit rechnen, dass ein Mensch die Hürden seiner sozialen Herkunft tatsächlich überwindet. Es bleibt die Ausnahme.
Stimmt. Ist das nicht schrecklich? Wir leben in einer Gesellschaft, die glaubt, alle haben die gleichen Chancen. Das stimmt nicht. Dazu gibt es wissenschaftliche Forschung. Trotzdem wird kaum versucht, diese Ungleichheiten abzubauen. Das Interesse, Zugänge zu Ressourcen zu verhindern, ist viel zu groß. Anna Mayr beschreibt das in ihrem Buch »Die Elenden« sehr genau. Darin sehe ich die Aufgabe des Theaters: strukturelle Gegebenheiten als gesellschaftliche Konstruktionen, die veränderbar sind, sichtbar und verhandelbar zu machen.
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