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Eine Geschichte von Gut und Böse
Aus Stefan Zweigs »Schachnovelle« macht der deutsche Regisseur Philipp Stölzl einen Folter-Thriller
Wer erinnert sich noch an Stefan Zweigs Kurzroman »Schachnovelle«? Wer hat sie nicht irgendwann in seiner Schulzeit gelesen?
Zur Auffrischung: Darin geht es zunächst um einen Ich-Erzähler, der in den späten 30er Jahren auf einem Schiff Richtung USA unterwegs ist und dort den Schachweltmeister Czentovic trifft. Bald kommt es zu einer Partie zwischen mehreren Männern und Czentovic. Bevor dieser die chancenlosen Amateurgegner dabei in eine Falle locken kann, greift ein unbekannter Fremder, Dr. B., in die Partie ein, übernimmt die Spielführung und erzwingt schließlich ein Remis. Daraufhin kommt es zu einem Gespräch zwischen dem Erzähler und Dr. B., in dem letzterer von seiner Gefangenschaft nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich erzählt. Die Gestapo hatte ihn demnach in Isolationshaft in einem Hotelzimmer gehalten, unterbrochen nur von Verhören, in denen die Nazis Informationen zu von ihm als Anwalt verwalteten Vermögen zu erlangen suchten. Die Isolation lässt Dr. B. verzweifeln und zunehmend psychotisch werden. Schließlich kann er bei einer Vernehmung ein Buch mitgehen lassen. Es ist ein Schachbuch, und in Ermangelung an Alternativen vertieft sich der Mann immer tiefer in das ihm zuvor kaum bekannte Spiel. Zunächst bringt ihm die Möglichkeit der Ablenkung einige Linderung, nachdem er das Buch aber auswendig gelernt hat, geht er dazu über, im Geiste gegen sich selbst zu spielen und entwickelt dabei Autoaggressionen. Nach einem tätlichen Angriff auf einen Wärter wird B. endlich entlassen und muss auf nämlichem Schiff in die USA ausreisen. Schließlich tritt er erneut gegen Czentovic an, die Erinnerung an seine Einzelhaftqualen werden durch das Spiel jedoch getriggert und er gerät in einen tranceartigen Zustand, was dazu führt, dass er den Überblick verliert und das Spiel abgebrochen werden muss.
Zweigs Text lässt sich auf diesen überschaubaren Plot reduzieren, seine Wirkung entfaltet er aber vielmehr durch seine lakonisch-komischen Beschreibungen der Figuren und Geschehnisse, seine Darstellung der Menschenfeindlichkeit der Nazis, aber auch seine Kritik an kapitalistisch-bürgerlichen Klassen- und Herrschaftsformen im Allgemeinen.
Aus dieser hellsichtigen, auch auf eigenen Erfahrungen Zweigs beruhenden literarischen Reflexion macht der deutsche Regisseur Philipp Stölzl (»Ich war noch niemals in New York«) nun einen knapp zweistündigen Folter-Thriller, der mit dem ursprünglichen Stoff außer dem groben Plot nicht viel gemein hat.
Es mag ja durchaus nicht ganz einfach sein, die im Buch sehr anschaulich dargestellten Qualen des mit dem intellektuellen und gesellschaftlichen Nichts konfrontierten vormaligen Großbürgers filmisch darzustellen. Wo Zweig seinen Protagonisten die innere Verwahrlosung selbst beschreiben lässt, muss der Film diese irgendwie äußerlich sichtbar machen. Das gelingt Stölzl teilweise auch gut, etwa wenn der Isolierte aufhört, sich um die Ordnung in seiner Hotelzimmerzelle zu scheren und sich auch sonst »gehen lässt«.
Statt dabei zu bleiben, wird Dr. B., der im Film Dr. Bartok heißt, nun jedoch von Nazischergen brutal körperlich misshandelt, es kommt schließlich sogar zu einem Mordversuch an ihm. Die innere Eskalation des Isolierten in Zweigs Novelle ist aber, darauf legt der Autor explizit Wert, keinem körperlichen Übergriff geschuldet, ganz im Gegenteil: »Denn die Pression, mit der man uns das benötigte ›Material‹ abzwingen wollte«, erzählt Dr. B. in Zweigs Geschichte, »sollte auf subtilere Weise funktionieren als durch rohe Prügel oder körperliche Folterung … Man tat uns nichts, man stellte uns nur in das vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts.« Stölzl missachtet also die Intention des Autors und verkehrt sie in ihr Gegenteil.
Ähnlich die dazu erfundene Frauenfigur, die nur die mentalen Zustände des Doktors spiegeln und für einen wohlfeilen und inkonsistenten Plot-Twist herhalten muss. Bartok landet schließlich als dauernd betrunkenes Wrack auf nämlichem Schiff und gerät in die Schachgesellschaft.
In Stölzls Filmwelt ist alles klar: Nazis sind brutale Schläger oder sinistre Emporkömmlinge, Depression wird am besten durch Alkoholmissbrauch und Düsternis dargestellt, Verzweiflung durch Pulsadern aufschneiden. Und ob es wohl einmal jemandem gelingen wird, deutschen Regisseuren klarzumachen, dass der Nationalsozialismus nicht ausschließlich in totaler Dunkelheit/ in der Nacht/ bei Gewitter/ Regenwetter stattgefunden hat?
Immerhin: Oliver Masucci spielt den Lebemann und Anwalt Bartok überzeugend, der Schauspieler wäre sicher auch in der Lage gewesen, die seelische Belastung einer Isolationshaft, das langsame Durchdrehen und das Klammern an jeden Strohhalm der Zerstreuung im Sinne Zweigs darzustellen, ohne dass man ihn verprügeln und in der Badewanne hätte ertränken müssen.
Die ganze Ambivalenz der Inszenierung ist in der Szene sichtbar, in der Bartok zunächst einige Dokumente verbrennt, während im Radio der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg kurz vor dem Anschluss Österreichs an das deutsche Reich mit bebender Stimme seine berühmte Abschiedsrede hält. Hier bringt Stölzl in wenigen Einstellungen und Filmminuten die Dramatik dieser historischen Tage auf den Punkt, das ist handwerklich großartig gemacht, die Szenerie ist dynamisch und fesselnd. Allerdings werden auch darin sämtliche Zwischentöne eingeebnet. Der Film suggeriert überhaupt, Österreich sei bis zur Annexion durch Deutschland ein freies, offenes Land mit einer liberalen Regierung gewesen, die sich nun dem Faschismus habe beugen müssen. Dass Schuschnigg selbst ein völkischer Faschist und Antisemit war, der diktatorisch geherrscht hatte, findet in Stölzls Film keinerlei Niederschlag. Man möchte dem Regisseur dabei nicht einmal irgendwie ideologische Absicht unterstellen, derartige Einebnungen sind vielmehr charakteristisch für eine Kulturproduktion, die aufgrund ihrer vollendeten Warenförmigkeit jede Herausforderung für das Publikum im Grunde aus dem Weg räumen muss.
Die zweite Hauptfigur der Textvorlage, der von einem Pfarrer aufgezogene, zurückgebliebene Bauernjunge Czentovic, der bei Zweig als sturer, aber eben gleichzeitig genialischer Schachautomat gezeichnet wird, sich aufgrund seiner Fähigkeiten auch aus gesellschaftlichen Abhängigkeiten emanzipieren kann und zumindest eine kalte Geschäftstätigkeit entwickelt, tappt im Film dämlich glotzend, stumm und vornübergebeugt von Brett zu Brett und besiegt die anwesenden Schachamateure im Dutzend. Wo für Zweigs Protagonisten das Schachspiel ein Ausweg ist, eine Chance auf Rettung, Emanzipation von brutalen Verhältnissen gar, möchte Stölzl eine ganz andere Geschichte erzählen, eine dramatische Liebesgeschichte inmitten einer zusammenbrechenden Zivilisation, eine Geschichte von Gut und Böse. Das übliche, immer gleiche Programm eben.
»Schachnovelle«: Deutschland 2021. Regie: Philipp Stölzl. Mit: Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Rolf Lassgård. 112 Min., Kinostart: 23. September.
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