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  • Kirill Serebrennikows »Outside«

Am Abgrund

Ein Gastspiel von Kirill Serebrennikows Theaterabend »Outside« fragt nach Freiheit und endet im Kitsch

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 7 Min.

Während der Einlass läuft, hängt einer der Schauspieler in der Luft. Mehrere Meter über dem Boden klebt er ein Plakat an die Bühnenrückwand. Es ist die Fotografie eines nackten jungen Mannes. Das Modell liegt ganz am Rand eines Hochhausdachs, im Hintergrund die Skyline einer Großstadt, vielleicht ist es Peking. Nur ein Windstoß, nur ein Schreck, eine unwillkürliche Regung, und er würde hinabfallen. Aber keine Sorge vonnöten, es ist ja ein Foto, ein geronnener Moment. Das Leben des Mannes ist gerettet, freilich um den Preis eines Sekundenbruchteils, den die Person hinter der Linse seinem Modell abnahm, als er ihn der Vergänglichkeit, dem Leben entriss.

Auch der Schauspieler dort über dem Bühnenboden ist nicht in Gefahr, er hängt an starken Seilen, unten sichern ihn die Kollegen, reichen ihm den Kleber. Wie eine Entschuldigung wirkt das Gesamtbild, wie eine Erklärung, die Rechtfertigung einer Kunstform, die doch für sich in Anspruch nimmt, gefährdet und prekär zu sein. Theater – so lehren sie es an den Universitäten, so beschreiben Schauspieler und Regisseure ihre Kunst oder Zuschauer ihre Faszination – ist unberechenbar. Keine Vorstellung gleicht der vorherigen. Immer kann etwas passieren, das nicht geplant war. Stets agieren die Künstler am Rande der Katastrophe, nicht nur der des Stücks, sondern ihres eigenen Spiels, das in ein komplexes System aus Stimmungen, Fehlern und Energien eingebunden ist, in dem jede Variable prekär ist, stets am Abgrund balanciert. Aber kommt Theater diesem eigenen Anspruch auch dann nach, wenn es wirklich um Leben und Tod geht?

Der Mann auf dem Haus ist nicht hinabgefallen. Aber sein Fotograf. Ren Hang stürzte sich im Alter von 29 Jahren von einem Hochhaus. Er litt viele Jahre an Depressionen, möglicherweise lag darin der Grund für seinen Selbstmord. Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow spürt dem Leben des Künstlerkollegen in seiner beim französischen Festival d’Avignon uraufgeführten Inszenierung »Outside« nach, die beim Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) der Berliner Schaubühne gastierte. Das Festival präsentiert seit 2000 jährlich ein internationales Bühnenprogramm. Das Haus am Ku’damm pflegt damit seinen Austausch mit Theatern rund um die Welt, vor allem die Inszenierungen ihres Leiters Thomas Ostermeier sind ständig auf Tour. Mit Serebrennikow verbindet die Schaubühne eine lange Zusammenarbeit, bereits zweimal war er beim FIND zu Gast. Ostermeier und Schaubühnen-Star Lars Eidinger setzten sich zudem immer wieder für ihn ein, wenn dem unbequemen Künstler in Putins Russland Repressionen drohten.

Auch die Probleme, die Ren Hang mit Chinas Kommunistischer Partei hatte, könnten eine Rolle für seinen Selbstmord gespielt haben, wie die Inszenierung andeutet. Seine Ausstellungen wurden verhindert, Publikationen verboten, seine Kunst als pornografisch geächtet. Unter westlichen Gesichtspunkten ein überraschendes Urteil, nehmen sich Ren Hangs Motive doch beinahe scheu aus. Die Glieder der Modelle sind oft ineinander verschlungen, ausgestopfte Tiere und Früchte bedecken ihre nackten Körper. Auch wenn mitunter Blumen oder Zigaretten in Geschlechtsteilen stecken, wirken die Bilder nicht aufdringlich sexualisiert, eher verspielt. In einem seiner wenigen Interviews sagte Ren Hang: »Ich möchte nicht, dass chinesische Menschen wie Roboter angesehen werden. Oder dass sie ihre Genitalien wie verborgene Schätze verstecken. Ich möchte zeigen, dass wir uns unserer Schwänze und Pussys nicht schämen.« Im Ausland war er mit dieser Agenda sehr erfolgreich. Ren Hang zeigte der Welt damit ein unbekanntes, junges China.

Auch Serebrennikow wurde auf ihn aufmerksam; er nahm Kontakt zu ihm auf, um eine gemeinsame Theaterarbeit zu initiieren. Aber kurz vor einem geplanten Treffen brachte sich Ren Hang um. »Outside« ist ein persönlicher Nachruf Serebrennikows auf den Fotografen. Er lässt sein Schauspielerensemble dessen Fotografien nachstellen, montiert Interviewausschnitte und Blogeinträge an erfundene Szenen, nicht zuletzt jenes Treffen der beiden Künstler, das nie stattfinden sollte.

Die beiden Männer auf der Bühne haben sich einiges zu erzählen. Beide sind sie offen homosexuell und gelten als regimekritisch, beide sind sie Gefangene. Ren Hang reiste zwar um die Welt, doch nicht nur die herrschende Partei beschnitt seine Freiheit, auch seine Depression verstärkte die Entfremdung von seiner Umwelt.

Serebrennikow wiederum stand von August 2017 bis April 2019 unter Hausarrest. Ihm wurde die Veruntreuung staatlicher Förderungen in seiner Funktion als Theaterleiter vorgeworfen; Kritiker halten die Strafverfolgung für politisch motiviert. 2020 wurde er zu einer Geldstrafe und einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Immerhin darf er nun wieder seine Wohnung verlassen. Während des Hausarrests war ihm das nur zwei Stunden am Tag erlaubt, für einen Spaziergang immer dieselbe Strecke entlang, wie Serebrennikows Alter Ego auf der Bühne beklagt. In Gedanken wundert er sich über die fröhlichen Passanten auf der Straße, fragt sich, ob sie nicht wüssten, dass sie ständig beobachtet werden, dass auch sie Gefangene sind. Vielleicht, so spottet er, sind ausschließlich Polizisten draußen unterwegs, und sie freuen sich, dass sie heute nicht die grauen Uniformen tragen müssen wie ihre Kollegen.

Was ein großer Teil der Welt erst in der Zeit der Corona-Pandemie erlebte, hat Serebrennikow in verschärfter Form schon zuvor erlitten: das Schrumpfen der Welt auf ein paar Quadratmeter. Zu Beginn steht er am Fenster, wohl erwägend, ob er springen soll. Eine schwarze Gestalt, sein Schatten, liegt ihm zu Füßen, verspottet ihn. Die Freiheit und die Depression sind hier die Gegensätze im Leben der beiden oppositionellen Künstler. Diese recht schematische Darstellung zieht sich durch die Inszenierung, die sich vor allem an Bildern und Stimmungen berauscht. Serebrennikow lässt Ren Hangs melancholische Gedichte vertonen, sein Ensemble probiert Posen aus, die denen seiner Fotografien gleichen, entblößt die geforderten »Schwänze und Pussys«, als ließe sich so irgendetwas beweisen. Auch Ren Hangs Mutter kommt vor, eine junge Schauspielerin trägt in dieser Rolle vermeintlich chinesische Rezepte vor: Schweinekopf und Schwan, der unbedingt mit Preiselbeeren zu servieren sei. Kurz darauf tanzt sie, in chinesischer Tracht bekleidet statt nackt wie die anderen, über die Bühne. Mutter und Sohn hätten täglich telefoniert, erfährt man, und jeden Tag habe Ren Hang sie belogen, habe vorgegeben in einem Büro zu arbeiten, ein bürgerliches Leben zu führen. Es heißt auch, die Mutter leugne den Tod ihres Sohnes, er sei für sie noch immer am Leben.

»Outside« erzählt von Fremdheit und Einsamkeit. Politische Unterdrückung befördert diese, sie ist aber nur eine Form der Gewalt, die Menschen in Isolation, in Lügen und Einsamkeit verharren lassen. Jedoch: Die Bilder dieser Inszenierung wirken seltsam abgelöst von den Leben, von denen sie zeugen. Es sind Spekulationen über die Gründe einer menschlichen Katastrophe, über den Verlauf von Gesprächen, die so nicht geführt worden sind. Die Fantasie muss die existenziellen Grenzen überwinden, die der Staat und schließlich der Tod den Protagonisten gesetzt hat. Und doch führt dieser Ansatz eher in den Kitsch denn zur Wahrheit.

Das Theater, verstanden als Imitator des Lebens, führt dasselbe in seiner Zerbrechlichkeit vor, in der Kontingenz, die jeden Plan bedroht, jede Straßenüberquerung, jede Begegnung mit einem anderen Menschen, jeden Gedanken. Im folgenden Augenblick könnte sich schon vieles, vielleicht alles geändert haben, der nächste Moment könnte ein letzter oder der erste sein. Während Theater also die Haltlosigkeit des freien Menschen feiert, versichert ihm die Fotografie eine verlorene Konstanz, beweist, dass etwas oder jemand existent und konsistent, auf eine bestimme Art und Weise am Leben war. Doch beide Künste, beide Medien, vor allem das zeigt diese Inszenierung, laufen ihren Gegenständen stets hinterher. Sie können immer nur mutmaßen, nur vermitteln, was einmal einzigartig und verworren war. Sie folgen viel mehr ihren eigenen Regeln als denen eines Lebens. Und wenn ein solches endet, erzählen sie viel mehr von sich selbst als von dem, der verloren ging.

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