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Wie der Kolonialismus sich in die Seelen gräbt

Abdulrazak Gurnah erhält den Literaturnobelpreis 2021

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Was das wieder für ein Rätselraten war! Wie Journalisten wetteiferten, uns ihre Favoriten für den Literaturnobelpreis aufzutischen. Vorneweg diejenigen, die sie in den vergangenen Jahren schon auf ihren Listen hatten (und die es auch diesmal nicht schafften): die Kanadierin Margaret Atwood, der Japaner Haruki Murakami, der Kenianer Ngũgĩ wa Thiong’o, der mit 83 nun wirklich mal dran wäre, Jamaica Kincaid, geboren in Antigua und in New York lebend, Maryse Condé, die Grande Dame der karibischen Dekolonialisierungsliteratur oder Ljudmila Ulitzkja aus Moskau.

Und nun ist es, wie gar nicht so selten in den vergangenen Jahrzehnten, jemand geworden, dessen Name erst einmal Erstaunen auf die Gesichter selbst der Literaturexperten zaubert: Abdulrazak Gurnah, 1948 auf der Insel Sansibar an der Ostküste Afrikas geboren, die seit 1963 zu Tansania gehört.

Seit Ende der 60er Jahre lebt er in Großbritannien. 1968 begann er am Christ Church College in Canterbury zu studieren, promovierte 1982 an der Universität Kent in Canterbury, wo er mit seinen 73 Jahren bis vor Kurzem noch eine Professur für englischsprachige Literatur innehatte. Nicht verwunderlich, dass sein Hauptinteresse dem postkolonialen Schreiben gilt. Er hat dazu zwei Bände mit Essays herausgegeben, in denen er sich vornehmlich auch mit anderen Autoren wie V. S. Naipaul, Salman Rushdie und Zoë Wicomb beschäftigt, nicht geneigt allerdings, im Sinne afrikanischer Literatur etwa Konkurrenzkämpfe auszufechten.

Literatur ist Abdulrazak Gurnah etwas Universelles. »Als ich mit fünfzehn das erste Mal Anna Karenina las, weinte ich, obwohl ich nichts wusste über das Russland des 19. Jahrhunderts. Tolstoi schreibt über menschliche Gefühle, die alle verstehen können«, wird er in der »Zeit« zitiert, die sich hier aus einem Interview mit ihm in der »Stuttgarter Zeitung« bediente. Die Nobelpreis-Jury lobt »sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten«. Dabei habe er auch bewusst mit Konventionen gebrochen, um die koloniale Perspektive auf den Kopf zu stellen.

Dass nur Europa und Nordamerika im Blick der Juroren wären, kann man schon längst nicht mehr sagen. Seit Jahren hat sich in der Öffentlichkeit der Begriff von Weltliteratur erweitert – und das nicht etwa nur im Sinne eines Gerechtigkeitsempfindens. Vielmehr machen wir die Erfahrung, wie gerade die nichtwestliche Literatur uns bereichert – im Wissen und Fühlen wie auch durch eine ganz eigene Ästhetik.

Das kommt bei Gurnah natürlich auch aus eigenen Erfahrungen. Seine Heimat hatte er verlassen, als es dort zu blutigen Ausschreitungen gegen arabischstämmige Einwohner gekommen war, nachdem eine kleine Gruppe von Schwarzafrikanern, die in der britischen Kolonialzeit besonders unterdrückt gewesen waren, die Macht ergriffen hatte und den Sultan zum Abdanken zwang. Gurnah, selbst mit arabischen Wurzeln, seine Muttersprache war Swahili, floh nach Großbritannien und schrieb fortan auf Englisch.

Von seinen Büchern, unter anderem »Das verlorene Paradies« (1994), »Donnernde Stille« (2000), »Schwarz auf Weiß« (2004), sind durchaus nicht alle ins Deutsche übersetzt. Was jetzt nachgeholt werden könnte. Jüngste Veröffentlichung war 2006 der Roman »Die Abtrünnigen« im Berlin-Verlag. Darin geht es um zwei miteinander verflochtene Liebesgeschichten. So wie sich 1899 ein kolonialismuskritischer englischer Orientalist in die Schwester seines kenianischen Gastgebers verliebt, ohne sie ehelichen zu können, muss 50 Jahre später auch die Liebe des Erzählers zu deren Enkelin scheitern. »Wie sich der Kolonialismus in die Seelen der Menschen gegraben hat und jenseits ihres Willens ihr Handeln und Fühlen steuert«, hob Tobias Rapp damals in der »Taz« hervor. Wobei Gurnahs Schreiben eine Besonderheit darin hat, jegliche Klischees zu vermeiden, keinerlei Vereinfachungen zuzulassen. So öffnet er den Blick auf eine Welt, die die meisten von uns nicht kennen und die auf jeden Fall vielfältiger ist als wir zumeist vermuten.

Der Nobelpreis 2021 ist mit zehn Millionen Schwedischen Kronen dotiert (umgerechnet rund 984 000 Euro) und gilt als prestigeträchtigste literarische Auszeichnung der Welt. Die Verleihung wird am am 10. Dezember erfolgen, dem Todestag des Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833–1996), der den Preis gestiftet hat.

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