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Den Reichen nehmen, den Armen geben
Thomas Piketty plädiert für den Sozialismus und eine sozial gerechte Umverteilung - und formuliert auch Anregungen für eine Erneuerung der Linken
Vivement la socialisme!« heißt das Buch im Original: Es lebe der Sozialismus. Bei C. H. Beck klingt es nüchterner: »Der Sozialismus der Zukunft«. Immerhin Sozialismus, der alte Traum. Die Geschichte werde zeigen, ob dieses Wort »endgültig tot und zu verwerfen ist«, schreibt Thomas Piketty im Vorwort. »Ich denke allerdings, wir dürfen uns nicht damit begnügen, ›gegen‹ Kapitalismus oder Neoliberalismus zu sein. Wir müssen auch ›für‹ etwas anderes einstehen.« Wohl wahr. Aber wer ist »wir«? Nicht einmal innerhalb der Linken, die am konsequentesten für soziale Gerechtigkeit steht oder stehen müsste, wäre über einen solchen Zukunftsentwurf Konsens zu erzielen.
Unweigerlich hat man bei der Lektüre die Ergebnisse der Bundestagswahl hierzulande im Kopf. Zwar zeigten Umfragen immer wieder, dass soziale Gerechtigkeit und Sicherheit für viele Menschen einen hohen Wert darstellen, doch jene Partei, die am deutlichsten für Umverteilung steht, kam nur knapp ins Parlament. Von den am schmerzhaftesten sozial Abgehängten haben viele gar nicht gewählt. Oder eben anders, möglicherweise gar die AfD, die wie die FDP für eine Begünstigung der Reichen steht, dies aber nationalpopulistisch tarnt. Immerhin vertrauten SPD-Wähler noch den Möglichkeiten vorsichtiger Veränderungen. Mit Grünen und Linken zusammen hätte sich die Schere zwischen Arm und Reich ein kleines Stück schließen lassen. Mit der FDP sinkt die Wahrscheinlichkeit.
Umverteilung im Fokus
Letztlich war auch diese Wahl eine im Sinne derer, die eine mögliche Reichensteuer fürchteten, unterstützt durch einen Liberalismus, der »kulturell längst schon hegemonial geworden ist«, wie Leo Fischer im »nd« feststellte. Steht Thomas Piketty da auf verlorenem Posten? Der französische Wirtschaftswissenschaftler, Jahrgang 1971, hat bereits mit 22 Jahren zum Thema Umverteilung promoviert und ist heute Professor an der Pariser Elitehochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Sein erstes Buch, »Das Kapital im 21. Jahrhundert«, bekam 2014 kräftigen Rückenwind, insbesondere nachdem Paul Krugmann, Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2008, es in der »New York Times« als »das wichtigste Buch des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts« feierte. Autoren anderer, radikalerer kapitalismuskritischer Schriften musste das ungerecht erscheinen. Mit Piketty ist das Thema soziale Gerechtigkeit im Mainstream angekommen, mit widersprüchlichen Folgen.
Im Vergleich zu »Das Kapital im 21. Jahrhundert« und den folgenden Büchern von Piketty - das sind »Die Schlacht um den Euro« (2015), »Ökonomie der Ungleichheit« (2016) und »Kapital und Ideologie« (2020, alle bei C. H. Beck) - nimmt sich das neue bescheidener aus. Einem programmatischen Vorwort aus dem vergangenen Jahr folgen 41 Kolumnen, die der Autor zwischen September 2016 und Juli 2020 für die renommierte französische Tageszeitung »Le Monde« schrieb. Es sind Stellungnahmen zu aktuellen Vorgängen. So spricht er über seine Arbeit für die World Wealth and Income DataBase, durch die über 90 Forscher aus nahezu 70 Ländern Zugriff auf Steuer- und Finanzarchive haben, analysiert Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen in Frankreich und vergleicht die dortige Produktivität mit der in Deutschland, wobei ihm der hiesige Handelsüberschuss und die stagnierenden Gehälter Sorgen bereiten.
Katalonien, Italien, Brasilien, Indien, China, Russland und immer wieder die USA geraten in den Blick. Es ist interessant zu lesen, dass in den USA zwischen 1930 und 1980 der Spitzensteuersatz auf Einkommen im Durchschnitt bei 82 Prozent lag und der Höchststeuersatz auf Nachlässe bei 70 Prozent. Mit Ronald Reagan als Präsident sank der Spitzensteuersatz auf 28 Prozent. Und auch Joe Bidens Steuerpläne, sei hinzugefügt, wurden zugunsten der Reichen schon wieder abgemildert. Bezüglich Deutschland wird an das Lastenausgleichsgesetz erinnert, das 1952 mit CDU-Mehrheit beschlossen wurde. »Mit einer bis zu 50-prozentigen Besteuerung der größten Finanz- und Immobilienvermögen, zahlbar über 30 Jahre, brachte dieses System dem Staat 60 Prozent des BIP ein, in einer Zeit, als Milliardäre noch viel weniger wohlhabend waren als heute«, heißt es bei Piketty.
Konstruktionsfehler der EU
Beeindruckend ist, wie Piketty mit Zahlen hantiert - das Buch ist voller Diagramme -, zum Beispiel zur Zuwanderung in Europa, die mitnichten zunimmt, im Gegenteil. Vor allem aber geht es immer wieder um die Frage, wie die Reichsten zur Finanzierung des Gemeinwohls herangezogen werden können. »Die angebliche Unmöglichkeit einer gerechten Steuer führt zu einer Flucht in die Staatsverschuldung«, schreibt Piketty. Dass die Daseinsvorsorge strukturell unterfinanziert ist, dürfte als ökonomisches wie politisches Problem auch in den Machtetagen klar sein. Doch wie ändert man das?
Man mag es - Piketty folgend - als Geburtsfehler der EU bezeichnen, dass sie als »Freihandelszone ohne gemeinsame Steuergesetze« konstruiert war. Ein gemeinsamer Mindeststeuersatz sei nie Thema gewesen, zumal »der Finanzministerrat meist dem Einstimmigkeitsprinzip folgt. Im Steuerwesen kann ein luxemburgisches Veto alles blockieren.« Das »seit Jahrzehnten gewachsene Misstrauen ärmerer Bevölkerungsschichten gegenüber Europa« sei »keine irrationale Laune, sondern beruht vielmehr auf einer Grundwahrheit, einem Konstruktionsfehler, der dringend zu korrigieren ist, bevor alles in die Luft fliegt«. Es gehört wohl zu Pikettys Taktik, mit Blick »nach oben« derlei Warnungen auszustoßen. Die »größten politisch-ideologischen Umstürze« würden »gerade erst anfangen«. Doch ist ihm aus linker Sicht zu Recht eine gewisse Naivität vorgeworfen worden. »Der freie Verkehr von Kapital, Waren und Dienstleistungen ohne gemeinsame Fiskal- und Finanzpolitik kommt vor allem den Reichsten und Mobilsten zugute.« Nicht anders war es gedacht. »Die Orgien der Geldschöpfung und des Anleihenkaufs führen in Wirklichkeit zu aufgeputschten Börsen- und Immobilienkursen, was nur dazu beiträgt, die Reichsten reicher zu machen.« Man darf nicht aufhören, dagegen zu polemisieren, aber das Primat der Gewinnmaximierung liegt nun einmal dem kapitalistischen System zugrunde.
Deshalb kommt Piketty letztlich nicht umhin, die Systemfrage zu stellen. Das »ganze Wirtschaftsmodell« müsse »neu konzipiert werden«. Aber wie soll das geschehen? Allein schon die Steuerschraube neu zu justieren, was noch nicht die Sprengung des kapitalistischen Rahmens bedeuten würde, trifft doch auf erbitterten Widerstand derjenigen, die dabei etwas zu verlieren hätten. Dass 0,1 Prozent der Bevölkerung in Deutschland laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung über rund 20 Prozent des Nettovermögens verfügen, verbindet sich mit politischem Einfluss. Dass der Staat in diesem Sinne das Machtinstrument der herrschenden Klasse sei, diese Formel mag dialektische Beweglichkeit besitzen, gilt indes im Ernstfall in aller Heftigkeit. Piketty gesteht zu, dass es im vergangenen Jahrhundert zu einem Rückgang der »Vermögensungleichheit« kam, der vor allem die »mittlere Vermögensklasse, also die 40 Prozent der Bevölkerung zwischen den oberen 10 Prozent und den unteren 50 Prozent Prozent betraf«. Der Anteil letzterer sei »dauerhaft gering« geblieben.
Die Linke und die Mittelklasse
Zwischen Oben und Unten ist also ein Puffer eingebaut. Wenn die Linke mit ihren Zielen gesellschaftlich wirksam werden will, muss sie sich aus meiner Sicht zum einen der Abgehängten annehmen, die sich irgendwie durchwursteln und in ihrer Realität dem urbanen Milieu fernstehen, zum anderen aber jenen Teilen der Mittelklasse, die von Abstiegsängsten bedroht sind. Sie wünschen sich soziale Gerechtigkeit und zugleich Sicherheit in den krisenhaften gesellschaftlichen Transformationen, die ohne Rücksicht auf sie vonstatten gehen. Die jüngeren Arbeitenden, in ständiger Ungewissheit gehalten, betrifft das ebenso.
Piketty formuliert die schöne Idee einer Erbschaft für alle. 120 000 Euro würden im Alter von 25 Jahren ausgezahlt, was der ärmeren Hälfte der Gesellschaft zugutekäme. Aus einer Vermögens- und Erbschaftssteuer ließe sich das leicht finanzieren, meint er, soziale Ungleichheit würde dadurch drastisch reduziert. Es ist wirklich interessant, das einmal im Geiste durchzuspielen. »Man kann erwägen, ein Unternehmen zu gründen oder eine Wohnung zu kaufen« (der Betrag reicht dafür aber nicht), und vor allem müsse man dann nicht mehr »fast alle Arbeitsbedingungen akzeptieren« (während das System doch durch Billiglöhne funktioniert). Eine Kopfgeburt, eine Luftnummer? Beim Lesen wird man immer wieder begeistert nicken und dann wieder zweifelnd den Kopf schütteln. Gedankengymnastik kann versprochen werden.
Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft. Interventionen. C. H. Beck, 232 S., br., 17 €.
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