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Der lange Atem der Konterrevolution

Grégoire Chamayou zeigt, wie sich der autoritäre Liberalismus der Gegenwart aus den ökonomischen Krisen und politischen Kämpfen der 1970er Jahre entwickelt hat

  • Thomas Ernest
  • Lesedauer: 16 Min.

Wer die Gegenwart verstehen will, der landet immer wieder in den 1970er Jahren. Sie gelten als das Schlüsseljahrzehnt unserer Epoche, die nur noch die Bourgeoisie als treibende gesellschaftliche Kraft kennt. Doch blickt man auf jene Jahre zurück, so schien noch nichts entschieden. Zwar zeichnete sich mit dem endgültigen Abflauen der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der Nachkriegsjahre bereits eine größere Krise der Theorie wie auch der Praxis des keynesianischen Staates ab, der davon ausging, den Kapitalismus für immer stabilisieren zu können.

Doch konnte man sich kaum vorstellen, welche Verhältnisse sich in den 80er Jahren langsam entwickelten und ab den 90er Jahren überall etabliert wurden. Zu stark wirkte sich das vorangegangene Jahrzehnt und seine politische Kraft auf die Dekade aus. So hatte der größte Generalstreik der Geschichte im französischen Mai 1968 schließlich gezeigt, dass die politische Hoffnung der 60er auf die Globalisierung der antikolonialen Revolution nicht unberechtigt war, die Tariq Ali wie folgt zusammenfasste: »Wenn sich schon ein Agrarland erfolgreich gegen die mächtigste Nation der Erde wehren konnte, musste doch die Arbeiterklasse in Frankreich oder Italien in der Lage sein, sich ihrer eigenen Bourgeoisie zu entledigen.«

Zwar blieb die Weltrevolution aus, doch sollte allein ihr Schatten die besitzende Klasse in eine für uns heute ungewohnt defensive Position drängen. Während nämlich auf der einen Seite die wirtschaftliche Rezession auf die Profitraten drückte, bedrohten zugleich gesellschaftliche Dynamiken die Herrschaft des Privateigentums und die ungehinderte Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. So schrieb das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin »Fortune« 1971 über die Macht der Arbeiter*innen: »Da man ihnen gestattet, sich wie Armeen zu organisieren, greifen die Gewerkschaften zu Zwang und Einschüchterung und schrecken nicht davor zurück, die ganze Wirtschaft zu destabilisieren, um ihre Ziele zu erreichen.« Und noch 1978 antworteten die Wirtschaftswissenschaftler Michael Jensen und William Meckling in ihrem gleichnamigen Text auf die Frage »Can the corporation survive?«: »Einige Firmen werden sang- und klanglos verschwinden. Andere werden die Organisationsform wechseln. Einige werden verstaatlicht, andere gehen in Arbeiterhand über.« Diesen gesellschaftlichen Mächten musste das Kapital schließlich selbst den Guerillakrieg erklären: »Wir erleben einen Frontalangriff auf unser Wirtschaftssystem. Wir sind im Krieg, aber in einem Guerillakrieg. Wir müssen unsere Unternehmensführung wieder auf Vordermann bringen und in die Offensive gehen, in der besten Tradition des amerikanischen Kapitalismus«, wie ein anderer Vertreter des US-Kapitals verkündete.

Das Kapital schlägt zurück

Diesen eigenartigen Guerillakrieg, der nicht in der Sierra Maestra oder Nordvietnam seinen Ausgang nahm und von der Kenntnis und Unterstützung seiner dem Gegner verborgenen Umgebung profitierte, sondern aus den Zentralen des Kapitals in eine feindliche Gesellschaft getragen wurde, untersucht Grégoire Chamayou in seiner Studie »Die unregierbare Gesellschaft«, nach »Ferngesteuerte Gewalt. Eine Theorie der Drohne« das zweite ins Deutsche übertragene Buch des 1976 in Frankreich geborenen Forschers und Philosophen. Die Untersuchung blickt auf die Krise der 70er, um die Genealogie des autoritären Liberalismus zu nachzuzeichnen. Sie erzählt die bislang unerzählte Geschichte der angeschlagenen US-Bourgeoisie, die sich nach einem kurzen Schock sammelte, ihre Lage theoretisierte und schließlich losschlug, um unsere schreckliche Gegenwart zu erschaffen, in der sie sich wohlfühlt, wie die Made im Speck, da sie heute auch noch die Sintflut verwerten kann, die sie zu verantworten hat. Die Studie ist deshalb von großem Interesse, da sie aufzeigt, wie Protest gegen den Kapitalismus auf der einen Seite zerschlagen und andererseits in den Kapitalismus integriert wurde, um die gegenwärtige Form kapitalistischer Herrschaft zu erschaffen, die zugleich autoritär und integrativ ist. Mithilfe der Studie lassen sich zugleich auch die Logiken liberaler Herrschaft und Beherrschung neu beleuchten, wie sie in der Coronakrise die globale Gesellschaft in den Wahnsinn treiben.

Chamayou geht in seiner Geschichte »von oben« von der Frage aus, über welche praktischen wie theoretischen Methoden das Kapital vermochte, die Gesellschaft in ihrem Sinne wieder regierbar zu machen. Er untersucht, wie Marktverhältnisse dort geschaffen wurden, wo zuvor gesellschaftliche Kollektive bestanden. Dieser Guerillakrieg der unternehmerischen Privatregierung richtete sich im Wesentlichen gegen zwei miteinander verwobene Feinde: Zum einen gegen die Kräfte der Sixties, das heißt, gegen soziale Bewegungen, die sich innerhalb wie außerhalb der Fabrik gefährlich entfalteten, und zum anderen auch gegen den kostspieligen keynesianischen Staat, der diesen sozialen Kräften eine Heimat gab.

Der Nachkriegskeynesianismus sei, so die Sorge der herrschenden Klasse und ihrer Denker, nicht mehr in der Lage, dem Kapitalismus eine solide legitimatorische Grundlage zu schaffen, er produziere umgekehrt unentwegt Hindernisse, an denen sich die »unsichtbare Hand« stoßen muss. Er sorge für Regulierungen und unnötige Ausgaben, zugleich aber auch für einen Exzess menschlicher Bedürfnisse, die den Bedürfnissen des Kapitals entgegenstehen, weil zu viel Demokratie, Selbstbestimmung und Gesundheit eingefordert werden. Um diesen für die Bourgeoisie unerträglichen Zustand zu überwinden, müsse auch der Staat in seiner demokratischen Form angegriffen werden. Man müsse zu einem System der »beschränkten Demokratie« gelangen, welches »eine Reihe von Fragen außerhalb der Reichweite demokratischer Politik« ansiedelt, wie es sich der neoliberale Denker Friedrich August von Hayek erhoffte.

Kämpfe in der Fabrik

Der erste Gegner, der geschlagen werden musste, um diese Despotie des unternehmerischen Privatinteresses reinstallieren zu können, war laut Grégoire Chamayou die Arbeiter*innenschaft. Es drohte in den westlichen Industriegesellschaften der Nachkriegszeit eine für die uneingeschränkte Herrschaft der Besitzer von Produktionsmitteln ungünstige Konstellation, in der die Arbeiter*innen ihre Unterwerfung nicht mehr länger zu akzeptieren bereit waren. Der gewachsene Wohlstand und die Erfahrung oder zumindest die sichtbare Möglichkeit eines Lebens jenseits materieller Not wirkten sich verheerend auf die Fabrikdisziplin aus. Sabotage, wilde Streiks und Fernbleiben vor allem junger Arbeiter*innen in den großen Industrien waren die eine Folge, die andere waren Forderungen und Ansätze der Demokratisierung der Fabrik.

Die gleichzeitig hohe Nachfrage nach Arbeitskräften ermöglichte es den unzufriedenen Arbeiter*innen, nun die Fabrik nur so oft zu frequentieren, wie nötig. So blieben 1973 bei General Motors (GM) täglich fünf Prozent der Arbeiter*innen ohne Begründung der Arbeit fern, montags und freitags verdoppelte sich diese Quote und im Sommer stieg sie auf fast 20 Prozent an. Auf die Frage hin, wie ein Arbeitstag am Montag oder im Sommer aussieht, antwortete ein amerikanischer Automobilarbeiter: »Keine Ahnung, ich bin montags noch nie da gewesen.« Dieser proletarischen Insubordination sollte das Kapital jedoch das Genick brechen. Ein hoher GM-Funktionär identifizierte das gesellschaftliche Fundament dieser Praxis: »Krankfeiern ist keine Folge monotoner Arbeit, sondern des wirtschaftlichen Wohlstands der Nation, des hohen Grades an Sicherheit und der vielen von der Industrie bereitgestellten Sozialleistungen.« Das Bedürfnis nach menschlichen Arbeitsbedingungen, welches hinter dem Krankfeiern steckte, wurde folglich von oben ignoriert, um stattdessen die disziplinarischen Stellschrauben wieder anzuziehen, damit die Arbeiter*innen auch am Montag wieder in den Höllenschlund der Fabrik zurückkehrten.

Während das Abflauen der Konjunktur das Problem der Vollbeschäftigung ab Mitte der 70er Jahre ganz naturwüchsig erledigte, griffen die Strateg*innen des Kapitals vor allem die Organisierung der Arbeiter*innen, also die Gewerkschaften an. So entwickelte sich in den USA eine ganze Industrie des »Union Bustings«, in der nun Juristen, Arbeitspsycholog*innen und andere Menschenfeinde dem Kapital dabei behilflich sind, die »Entsyndikalisierung« mithilfe von Einschüchterung, Diffamierung und Rechtsbeugung durchzusetzen. Am Ende des Jahrzehnts war die Stimmung in vielen Unternehmen bereits derart gewerkschaftsfeindlich, dass schon der mögliche Kontakt zu gewerkschaftsfreundlichen Kolleg*innen bei vielen Arbeiter*innen Panik und Isolierung verursachte.

Neue soziale Bewegungen als Gefahr

Neben den menschlichen Bedürfnissen am Arbeitsplatz, jenem altbekannten Widersacher des Kapitalinteresses, entstanden jedoch in den 60er Jahren neue soziale Kräfte, die die Herrschaft des Unternehmens nun auch von außen angriffen: Aktivist*innen, die die Folgen der Konzernpraktiken für Mensch und Natur anprangerten und ohne größere monetäre Mittel plötzlich die Legitimität privatwirtschaftlicher Regierungsweisen infrage stellen konnten. Auf diesen neuen Aktivismus, der Ausdruck eines gewachsenen gesellschaftlichen Unbehagens an den Folgen der Kapitalakkumulation war, musste die Bourgeoisie mit neuen Methoden reagieren, die jedoch langfristig ähnliche Folgen zeitigten, wie ihr Kampf gegen die Arbeiter*innen. Da die Stärke der Aktivist*innen auf ihrer großen sozialen Basis fußte, mussten die gegenaktivistischen Kommandos, die laut Chamayou eine Kreuzung aus Militär-, Partei- und Marktstrategie waren, zunächst auf die Spaltung der Aktivist*innen und ihrer Netzwerke zielen.

In einem ersten Schritt wurden die radikalen Elemente identifiziert und ihre Forderungen delegitimiert. Dann konnte der Dialog mit denjenigen beginnen, von denen sich die am Pranger stehenden Unternehmen ein Einknicken vor ihrer Strategie der Dialogbereitschaft und Offenheit erhoffen konnten. So hörten die mächtigen Unternehmer den geschmeichelten Umweltschützer*innen plötzlich zu und gingen ab den 80ern massenweise Kooperationen mit ihren jungen NGOs ein. Diese neue strategische Managerialität verband die Sicherstellung der Herrschaft des Profitinteresses mit einer Kunst »der Manipulation der äußeren - physischen, sozialen und politischen - Umwelt, die darauf abzielte, sie für die Aktivitäten des Unternehmens empfänglicher zu machen«, wie es die »California Management Review« im Jahr 1975 ausdrückte.

Diese neuen Strategien von Shell oder Monsanto lösten jedoch bei der alten Garde des Neoliberalismus zunächst großes Unverständnis aus. Laut Milton Friedman solle kein anderer Zweck als der des privaten Profitinteresses in einem Unternehmen Platz finden, kein Unternehmen solle sich dafür schämen, profitgetrieben zu sein: »Wenn es etwas gibt, was unsere freie Gesellschaft unterminieren würde, dann wäre es die generelle Einwilligung von Seiten des Managements, andere soziale Verantwortung zu übernehmen als die, so viel Geld wie möglich zu machen. Das ist eine durch und durch umstürzlerische Lehre.« Innerhalb der Bourgeoisie gab es keinerlei Einigkeit, wie man mit den Problemen der 60er und 70er Jahre umgehen sollte, wie in »Die unregierbare Gesellschaft« plastisch und zugleich sehr unterhaltsam herausgearbeitet wird.

Auf der einen Seite hatte man die Neoliberalen, die die Gesellschaft im Grunde zerschlagen wollten, um dem Unternehmen ein neues profitables Terrain zu schaffen. Auf der anderen Seite hatte man jedoch auch neuere strategische Ansätze, die auf der Einsicht beruhten, dass die Gesellschaft manipuliert werden musste, um ihre Regierbarkeit wiederherzustellen. Die Uneinigkeit dieser kapitalistischen Konterrevolution prägt auch noch unsere Epoche und hat ihr teilweise bizarres Antlitz geschaffen: Das Profitinteresse kann heute ohne nennenswerten Widerstand von Arbeiter*innen und ihren Organisationen zwar real problemlos herrschen, doch traten zahllose linksliberale Dienstleister beziehungsweise ehemalige Aktivist*innen das Erbe des strategischen Gegenaktivismus an, um das »Verantwortungsgeschwätz«, wie es Friedman nannte, zu professionalisieren. Und um unsere Gegenwart zu erschaffen, in der »Union Busting« und die Rede von der gesellschaftlichen Verantwortung keinen Widerspruch darstellen.

Individualisierung und Verantwortung

Das »Verantwortungsgeschwätz« half dem Kapital noch an einer anderen zentralen Front der 70er Jahre, nämlich im Kampf gegen staatliche Regulierungen beziehungsweise gegen die drohende kostenintensive Übernahme ökologischer Verantwortung durch die Unternehmen selbst. Da sich die staatlichen Umweltregulierungen negativ auf die stagnierenden Profitraten auswirkten, mussten neue Formen der Ökologie gefunden werden, die das Kapital zu entlasten versprachen. Es musste dafür gesorgt werden, dass langfristig die Menschen selbst den Dreck wegmachen, den das Kapital verursacht. Diese Responsibilisierung genannte Strategie des entstehenden autoritären Liberalismus war laut Chamayou eine Antwort darauf, dass der ökologische Druck auf die verarbeitende Industrie ab Mitte der 70er Jahre gefährlich anstieg. Es wurden nicht nur die Umweltfolgen der Warenproduktion immer sichtbarer. Die Plastiktüten, Dosen und Verpackungen verrieten auch noch relativ genau ihren Ursprung, da die Logos der großen Konzerne nach dem Konsum nicht verschwanden, sondern nun zu negativen Werbeträgern wurden. Da sich um das Wegwerfsystem jedoch mächtige und träge Industrien der fossilen Verpackungsproduktion gebildet hatten, war an ein umweltverträgliches Modell der Produktion gar nicht mehr zu denken.

So finanzierten die Dosen- und Plastikproduzenten massive Kampagnen, die die Bevölkerung dazu animieren sollten, zu freiwilligen und einsamen Müllsammlern zu werden, um die Müllproduktion der Industrie vergessen und weiterlaufen zu lassen. Über die Strategie der Responsibilisierung wurden die individuellen Ansätze der sozialen Bewegungen zunächst angezapft und schlussendlich entpolitisiert: »Es beförderte den falschen Gegensatz von Mikro- und Makrotransformation und stellte der fortan als abgehobener, blanker Utopismus geltenden Forderung nach einem ›Systemwandel‹ die vermeintliche Selbstgenügsamkeit einer Reform individueller Praktiken gegenüber, denen zugetraut wurde, Veränderungen in kleinen Schritten zu bewirken, ohne kollektives Handeln oder Konflikte«, schreibt Chamayou. Diese Form des verantwortungsvollen Handelns ist längst nicht mehr als eine einstige konterrevolutionäre Strategie identifizierbar, da sie zu einer Kernprogrammatik linksliberaler (und in Teilen leider auch linksradikaler) Politik geworden ist, die ebenfalls die Profite der Industrie nicht antasten will, zugleich aber von einem unerträglichen unglücklichen Bewusstsein geplagt wird. Dies offenzulegen und in einen größeren historischen Kontext der kapitalistischen Restauration zu stellen, ist eines der Verdienste des Buches.

Die Formierung des autoritären Liberalismus folgt laut Chamayou im Grunde immer dem gleichen Prozedere: Die explosive Mischung aus rezessionsbedingtem Kostendruck und fordernden sozialen Bewegungen sorgt zunächst dafür, dass das Kapital nachdenken muss, wie es dieser ungünstigen Situation begegnen soll. Dieser Phase ist in der Studie manchmal recht schwer zu folgen, wobei man nicht genau weiß, ob das auch an den Gedanken der Bourgeoisie oder nur an der Darstellung der Studie selbst liegt. Dennoch bieten die dargestellten Denkbewegungen interessante, unterhaltsame wie auch bestürzende Einblicke in die Köpfe der herrschenden Klasse in einer Phase der noch ungelösten Krise. Sei es der orthodoxe und darin fast schon sympathische Milton Friedman - »Wenige Dinge verursachen mir solchen Brechreiz wie der Anblick dieser Werbespots, besonders von bestimmten Ölkonzernen, die uns weismachen wollen, sie seien nur dazu da, um die Umwelt zu schützen« - oder aber die düsteren Visionen einer liberalen Übergangszeit eines Friedrich Hayek: »Unter solchen Umständen ist es praktisch unvermeidlich, dass jemand über nahezu absolute Vollmachten verfügt. Absolute Vollmachten, die er genau zu dem Zweck einsetzen müsste, jede absolute Macht in der Zukunft zu vermeiden und zu beschränken.«

Der Phase des Nachdenkens folgt die der konterrevolutionären Praxis, die Chamayou präzise darstellt, was seine Studie so wertvoll und lesenswert macht. Hier wird an den Beispielen der beschriebenen Responsibilisierung, des »Union Busting« oder der Integration von Aktivist*innen nachvollziehbar, auf welche Weise das Kapital es auf der Mikroebene vermochte, soziale Einheiten aufzulösen und jene schwachen, integrierten oder unglücklichen Individuen zu hinterlassen, aus denen sich unsere Gegenwart zusammensetzt. Sie stellen das subjektive Fundament autoritär-liberaler Herrschaft dar: geschwächte Arbeiter*innen, linksliberalisierter Aktivismus und unglückliche Einzelne. Allesamt stehen sie vor unlösbaren Aufgaben und verzweifeln. Sobald diese erste Auflösung der sozialen Einheit vollzogen ist, so erläutert Chamayou zum Ende der Studie am Beispiel der Privatisierung, werden die Individuen immer stärker selbst zu den Trägern der neoliberalen Gesellschaft, da sie ihre menschlichen Bedürfnisse nur noch als miteinander konkurrierende Marktindividuen artikulieren können, schließlich ist der Horizont beziehungsweise die reale Möglichkeit kollektiver gesellschaftlicher Praxis verloren gegangen. »Die Entscheidungen (werden) nach und nach von den Individuen getroffen, die im Laufe der Monate und Jahre kumulativ die neue Realität erzeugen. Die beständigsten Revolutionen sind jene, die die Menschen im Laufe der Zeit für sich selbst machen«, zitiert er Madsen Pirie, einen der Strategen der neoliberalen Privatisierung.

Die Gesellschaft unter Kontrolle bringen

Was ist nun das Autoritäre an diesem neuen Regime kapitalistischer Herrschaft? Laut Chamayou wird der Staat ab den 70er Jahren dahin gehend transformiert, dass er dem Paradigma des autoritären Liberalismus gerecht wird: »sich selbst unregierbar machen, um die anderen besser regieren zu können«. Zu diesem Zwecke müsse der entstehende liberal-autoritäre Staat zunächst die Wirtschaftsfreiheit gegen den Nachkriegskeynesianismus erkämpfen und einschränkende Regularien sukzessive zurücknehmen. Zugleich müssen zu diesem Zwecke die Logiken des Kapitals in die Gesellschaft selbst implantiert werden: Die unkontrollierbare Gesellschaft muss unter Kontrolle gebracht werden. Dies geschah mit einer Mischung aus nackter Gewalt und Manipulation, die langfristig die Autorität der Märkte herzustellen vermochte. Das Instrument der Gewalt wurde in zahllosen Ländern des Globalen Südens angewandt. Die gewaltsame Zerschlagung von Gewerkschaften, linken Parteien oder Gruppen durch konterrevolutionäre Militärs verwirklichte die Visionen eines Hayek: »Wie sie verstehen werden, ist es einem Diktator möglich, liberal zu regieren. (…) Persönlich ziehe ich einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung ohne Liberalismus vor.« Der liberale Diktator garantiert wirtschaftliche Liberalität durch unmittelbaren Zwang gegen ihre Gegner*innen, die der unsichtbaren Hand des Marktes ein Gemeinwesen gegenüberstellen.

Die andere Möglichkeit besteht aus den beschriebenen Mikropolitiken, die vor allem in den kapitalistischen Zentren installiert wurden, da kein Diktator zur Hand oder notwendig war. Diese zeitigen jedoch, ganz ohne die Errichtung einer Diktatur, ähnliche Ergebnisse. Sie haben vereinzelte Einzelne zur Folge, die ihre Handlungen oder politischen Aspirationen nach dem Ende der 70er Jahre nicht mehr an einem Gemeinwesen, sondern ausschließlich an Machbarkeit und Kapitalinteresse orientieren. Über dieses unglückliche Bewusstsein wacht zugleich kein liberaler Diktator, sondern eine Schicht linksliberaler Aktivist*innen, dialogbereiter Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftlicher Pädagog*innen, die jeden Exzess sanktionieren oder einhegen und an die Eigenverantwortung appellieren. Der gegenwärtige Liberalismus ist folglich nicht ausschließlich autoritär, sondern auch dialogisch, anders, als der Titel des Buches zunächst vermuten lässt. Wer sich jedoch am »Verantwortungsgeschwätz« nicht beteiligen will oder kann, der bekommt die liberale Peitsche zu spüren.

Getrennte und isolierte Einzelne

»Die unregierbare Gesellschaft« zeichnet mit den dargestellten Ideen und Strategien einer bedrängten Bourgeoisie das Psychogramm einer durch und durch menschenfeindlichen Klasse und regt die Leser*in zum Klassenhass an. Auch die dargestellte Mikropolitik der Konterrevolution bietet zwar noch keine umfassende Erklärung für die sogenannte neoliberale Transformation, die sich ab den 80er Jahren entfesselte, doch sie legt vielfach die Entwicklung von Logiken offen, die unser heutiges Handeln strukturieren und deren konterrevolutionärer Hintergrund vielfach unbekannt ist: liberale und autoritäre Praxen der Trennung und der Isolierung. Das Buch ist daher den zahlreichen ökonomischen Studien zur Genese des gegenwärtigen Kapitalismus als lebendiges Begleitbuch beiseitezulegen, da es einerseits aufzeigt, was die Profitabilitätskrise der 70er in den Köpfen der herrschenden Klasse verursachte, andererseits nachzeichnet und nachvollziehbar macht, wie und in welchem Ausmaß diese einstigen Gedankenspiele und Strategien der herrschenden Klasse zu unserer schrecklichen Realität geworden sind.

Die Studie erlaubt zugleich auch einen schärferen Blick auf die Corona-Gesellschaft. Da es in der gegenwärtigen Krise weder Strukturen der Selbstverwaltung noch des funktionierenden Sozialstaates gibt, muss und kann die Bewältigung der monströsen Situation in die Hände der Einzelnen gelegt werden, die von Trägern virologischer Verantwortung zu unglücklichen Menschheitsrettern aufsteigen müssen. Da der Menschheit in diesem Falle jedoch nur durch ein kommunales Gesundheitswesen und gesellschaftliche Krisenadministration geholfen werden kann, müssen die Einzelnen in ihrer ambitionierten Praxis zwangsläufig scheitern und sich gegeneinander wie auch gegen sich selbst richten. Gleichzeitig ist der liberale Staat polizeilich und militärisch damit befasst, diese responsibilisierten Einzelnen in ihrem unglücklichen Tun autoritär zu überwachen und zu kontrollieren, statt ein Gemeinwesen zu fördern, welches die notwendige gesellschaftliche Entlastung in dieser schweren Krise bringen würde. Wie dieses entlastende Gemeinwesen aufzubauen ist, bleibt freilich auch nach der Lektüre von »Die unregierbare Gesellschaft« die Frage. Sicher ist lediglich, dass eine gemeinwesenorientierte Bewegung den Aufbau von Arbeiter*innenmacht und kollektiver wie selbstverwalteter Verantwortung vorantreiben muss - und jedem Dialog mit dem Kapital aus dem Weg gehen muss.

Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Suhrkamp, 496 S., geb., 32 €.

Eine erste Fassung des Texts ist auf communaut.org erschienen. Auf dem Blog werden Beiträge für eine klassen- und staatenlose Gesellschaft veröffentlicht. Der Autor ist in der Redaktion von communaut.org

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