Die Freiheit der Prozesse

Sechs Hippies in einem Haus voller Instrumente konnten zwei Jahre lang machen, was sie wollten: So erfand die Band Faust den Krautrock, vor 50 Jahren - eine Rückschau als CD-Box

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Viele Popmythen gibt es nicht in diesem Land. Das kaputte Westberlin ab Mitte der 70er ist ein mythisch aufgeladener Ort, David Bowie und Iggy Pop waren dort. Aber davon abgesehen ist doch alles sehr nüchtern.

Die Geschichte der Band Faust kommt einem Popmythos noch am nächsten. Er geht grob so: Der Schriftsteller, Journalist und Filmkritiker Uwe Nettelbeck möchte Musikproduzent werden und schwatzt der eher betulichen Plattenfirma Polydor sechs Hippies als »die neuen Beatles« auf.

Man einigt sich auf den sehr guten Bandnamen »Faust« und quartiert die ganze Bande in einem alten Gehöft in Wümme ein, nahe der ersten Überquerung des gleichnamigen Flusses durch die B 75, zwischen Tostedt und Lauenbrück. Das ist in Niedersachsen, südlich von Hamburg. Dort verballert man in den Jahren 1971 bis 1973 für damalige Verhältnisse enorme Summen Plattenfirmengeld und nimmt massenweise Musik auf - Songskizzen, improvisiertes Zeug, Collagen, ausgearbeitete Stücke. Was da rauskam, klang nicht sehr nach »Yesterday« und muss die Menschen, die das alles finanziert hatten, fürchterlich geärgert haben.

Ein kleines Wunder, dass Faust immerhin zwei Platten bei Polydor rausbringen konnten, bevor alle Beteiligten hochkant rausgeworfen wurden. Dann ging es nach London, und bei Virgin Records versuchte man das gleiche. Mit Erfolg, zwei weitere Alben, dann wieder Rauswurf.

Dass die Jahre in Wümme so eine pophistorische Bedeutung bekommen haben (zuletzt brachte der Deutschlandfunk ein sehr schönes Feature von Fritz Tietz über den Ort, 50 Jahre, nachdem die Hippies einfielen), mag auch daran liegen, dass man in der deutschen Popkulturgeschichte wenig findet, das musikalisch derart entgrenzt wirkt. Faust spielten eine radikal freie Musik, die Band erschien als erfolgreicher Versuch, das eigene Kleinbürger- und Deutschtum mittels Pop loszuwerden und das Licht zu sehen. »Licht« im Sinne von Velvet Underground 1968: »Wine in the morning/And some breakfast at night/Well, I’m beginning to see the light«.

Und dann natürlich nackig durch die Ortschaft rennen, Polizeirazzien, Drogen. »Ich habe mal aus Spaß vor der Haustür ein riesiges Loch gegraben«, erzählt Faust-Schlagzeuger Werner »Zappi« Diermaier in Christoph Dallachs Buch »Future Sounds«. Das Ordnungsamt hätte daraufhin verfügt, dass das Loch wieder zugeschüttet gehört. »Ich hab dann bald ein neues Loch gegraben, wieder kamen die, so ging es hin und her.« Ein treffendes Bild für die Herangehensweise von Faust: Man beharrt stoisch auch auf den Ideen, die sich von außen nicht erschließen, und wehrt Versuche, sie auszubremsen, mit stoischer Beharrlichkeit ab. Tatsächlich machen einige der Bandmitglieder heute noch Musik, in verschiedenen Konstellationen, und das meiste, was unter dem Namen Faust erscheint, ist ausgesprochen toll.

Einflussreich geworden ist aber vor allem die Musik, die in der ersten Phase, in Wümme, entstand. Die ersten vier Alben wurden von Avant- und Post-Rock-Leuten, Jim O’Rourke, Tortoise und Stereolab und so weiter, gefeiert, als Faust in Deutschland kaum noch präsent waren. Wie überhaupt Krautrock - das Genre, das seinen Titel von dem gleichnamigen zehnminütigen Opener des »Faust IV«-Albums hat - hierzulande lange Jahre ignoriert worden ist.

Eine Box hat nun die Musik, die in Wümme aufgenommen wurde, auf acht CDs (beziehungsweise sieben Vinyl-Alben und zwei Singles) zusammengesammelt: das Debüt, das zweite Album »So Far«, »The Faust Tapes«, »Faust IV«, eine Menge Geräusche und Seltsamkeiten, die bis jetzt auf Bändern in irgendwelchen Kisten eingelagert waren, und das bis jetzt nicht veröffentlichte Album »Punkt«, das die Band nach ihrem Rauswurf bei Polydor im Münchner Studio von Giorgio Moroder eingespielt hat.

Es verhält sich mit dieser Musik in zumindest einer Hinsicht wie mit dem Werk jeder sturznormalen Rockband: Wenn Sachen in Kisten auf Dachböden eingelagert und nicht veröffentlicht werden, hat das meist einen Grund. Das ein paar Jahrzehnte später veröffentlichte Musik-Archivmaterial hört man mit Interesse - einmal, und dann wahrscheinlich nicht wieder. Das gleiche gilt für die beiden in der Box enthaltenen »Momentaufnahme«-Compilations, die eher dokumentarischen Wert haben: Man hört, was auf dem Hof in Wümme damals so tagein, tagaus zusammenimprovisiert wurde, wenn alle mit dem Frühstück durch waren, irgendwann nachmittags oder auch nachts.

Alles aber, was Faust damals gemacht haben, auch noch die Tracks, die musikalisch nicht eben überwältigend sind, ist bestimmt von einer Freiheit, die offenbar nicht erkämpft werden musste, sondern - Nettelbeck und Polydor sei Dank - einfach als Voraussetzung genommen werden konnte: Sechs Hippies in einem Haus voller Instrumente können zwei Jahre lang machen, was sie wollen. Die Freiheit der Prozesse findet ihre auditive Entsprechung in der Unvorhersehbarkeit der Musik, die aber wiederum nicht präzedenzlos ist. Man kann schon ahnen, was Faust damals geschätzt haben: Velvet Underground, Frank Zappa, Cut-up-Experimente, Dadaistisches.

Und man hört, welche Musik Faust, wenn nicht vorweggenommen, so doch zumindest inspiriert haben. Das Debüt, »So Far« und »Faust IV« strahlen in die Zukunft - in Richtung späterer Versuche, Rock zu dekonstruieren, in Richtung Industrial, Drone Music und Postrock. Die Einstürzenden Neubauten haben sich viel von der Liveperformance von Faust abgeschaut, die auf Bühnen schon in den Siebzigern auf Eisen und Stahl rumprügelten und Betonmischer laufen ließen.

Auch die eher faden Passagen, die, die klingen, als hätte sich Frank Zappa besoffen versehentlich mit seiner Band im Übungskeller eingesperrt und müsse jetzt die Zeit irgendwie rumkriegen, machen dem Hörer noch Freude. Eine Freude, die sich aus der in dieser Musik gespeicherten Freiheit der Produktivität speist. Das ist dann wahrscheinlich das, was den Mythos um diese Band so langlebig werden lässt: Dass es auch hierzulande möglich war, eine Musik zu spielen, die nicht primär von Untertanen- oder Strebertum bestimmt ist.

Faust: »1971-1974. 50 Years of Faust« (Bureau B)

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