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Leg den Fuß hinters Ohr!
Die Abenteuer eines mittelalten Mannes
An guten Tagen steht Christian Bartel mit Prunkzigarette auf einem Streitwagen aus Schweinemett, sein Arzt in einem Brokkoli-Kostüm steht hinter ihm und flüstert »Bedenke, dass du unsterblich bist« in sein Ohr, während die Menge seine hervorragenden Leberwerte chantet. An schlechten Tagen sucht der Mittvierziger im Möbelhaus schon mal nach einem gemütlichen Sterbebett. Inmitten dieser Anfechtungen nimmt sich der preisgekrönte Autor und Satiriker trotzdem die Zeit, in seinen hochkomischen Geschichten andere drängende Menschheitsfragen zu behandeln: Wie schmecken eigentlich Engel? Schnarchen Frauen? Und darf man unangemeldeten Besuch in die Abstellkammer sperren?
Mein Leben als Bandscheibe -
Christian Bartel, geboren 1975 in Bonn, arbeitet als freier Autor. Er war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Exot« und Mitorganisator des Kölner Off-Lesefestes »Little Cologne«. 2005 wurde er deutscher Poetry-Slam-Vizemeister, 2014 lud ihn der Deutsche Akademische Austauschdienst als Writer in Residence an die Universitäten Edinburgh, St. Andrews und Newcastle. Bartel ist Mitglied der Lesebühnen »Rock ’n’ Read« (Köln) und »Ferkel im Wind« (Bonn), schreibt komische Geschichten und erhielt dafür 2018 den renommierten Ben-Witter-Preis. Er veröffentlichte zwei Geschichtenbände, unter anderem bei Satyr, einen »Zivildienstroman« und ein unsachliches Sachbuch über das Rheinland. Daneben ist er freier Redakteur, schreibt Bühnenstücke und verfasst Radiogeschichten für Kinder und Erwachsene.
ein Physiotagebuch
Erste Behandlung:
»Wer war die Bandscheibe?«, ruft die Krankengymnastin durchs Wartezimmer, und ich hebe die Hand. Ich bin nämlich neuerdings die Bandscheibe. Vor Kurzem dachte ich noch, Bandscheiben seien diese runden Dinger aus dem Baumarkt, mit denen die Heimwerker in meinem Viertel am Samstagmorgen bei offenem Fenster Fliesen zersägen. Aber dann machte es knack! in meiner Halswirbelsäule, und seitdem bin ich Bandscheibe.
Immerhin müsste ich jetzt endlich als erwachsen gelten, wofür sich außer meinem Geburtsdatum bislang noch keine stichhaltigen Beweise ergeben hatten. Aber jetzt: bitte sehr, Bandscheibe! Extrem stichhaltig zwischen dem zwoten und dritten Lendenwirbel! Ich bin sogar weit mehr als bloß erwachsen, stellt sich heraus: Die Bandscheibe ist die Jugendweihe des Nachwuchsseniors. Ich habe im Spiel des Lebens ein paar Felder übersprungen und bin gleich im goldenen Herbst der Frühvergreisung gelandet. Endlich darf ich mit den anderen Veteranen von der großen Lumbago-Schlacht, dem Arthrose-Feldzug und dem Scharmützel am Spinalnerv schwadronieren. Denn die Bandscheibe ist die Kriegsverletzung des Sitzarbeiters, das Schrapnell im speckigen Torso des angejahrten Schreibtischtäters, und weil er ein Mann und keine Memme ist, redet er wahnsinnig gern drüber. Frauen dagegen haben gar keine Bandscheiben, glaube ich, oder ihnen fehlt die Gabe zum mimosenhaften Martyriumsmonolog des mannhaften Mimimi.
So was denke ich, während ich die anderen Wartenden im Mindestabstand umkurve, denn es ist nicht nur Bandscheibe, sondern auch immer noch Corona. Immerhin sind die Lädierten leichter zu umkurven als die Springteufel aus dem Supermarkt.
»Sie bewegen sich ja noch ganz flott«, lobt die Therapeutin, weil ich mit Mühe einen Greis mit Rollator abgehängt habe. In den kommenden Wochen werde ich für einfachste Verrichtungen gelobt werden. Immer wenn ich das Ärmchen hebe oder das Rümpfchen beuge, wird meine Therapeutin begeistert in die Hände klatschen und betonen, wie schön ich das mache.
Doch da irrt sie, denn es ist nicht schön. Ich werde nämlich genau beobachten können, wie ich bäuchlings über einem grünen Gymnastikball liege, der sich unter meinem Gewicht zu einer Gymnastiklinse verformt, und gegen den entschiedenen Wunsch der Schwerkraft mit Extremitäten zu wedeln versuche, denn die Folter wird stets vor einem mannshohen Spiegel vollzogen. Damit ich meine Bewegungen überprüfen kann, wie es offiziell heißt. Dabei will man mich bloß brechen, um mich anschließend vollkommen neu aufzubauen. Denn bisher habe ich alles falsch gemacht, wie es scheint.
»Müssen Sie beruflich viel sitzen?«, fragt die Therapeutin. Ich nicke und verschweige dabei, dass ich auch nach Dienstschluss gern mal im privaten Rahmen sitze. Manchmal habe ich im Sitzen sogar einen sitzen, so sitzverliebt bin ich. Sitzen ist gewissermaßen mein Hobby.
»Sitzen ist das neue Rauchen«, meint die Therapeutin. Ich nicke und verschweige, dass sie meine beiden Hobbys gerade zu einem einzigen zusammengefasst hat.
»Und, was machen Sie sonst so?«, fragt die Krankengymnastin. Ich schweige. Es ist ja nichts mehr übrig von mir, was ich noch erzählen könnte.
Zweite Behandlung:
»Ich bin sehr beweglich. Ich hatte Gymnastik und Tanz als Schwerpunktsportart in der Schule«, kläre ich meine Physiotherapeutin auf. Das entspricht zwar erstaunlicherweise der Wahrheit, allerdings unterschlage ich dabei, dass ich alle anderen Kurse schon verschlissen und den Schwerpunkt eher künstlerisch als sportlich gesetzt hatte. Ich unterschlage auch, dass ich seit meiner Pogo-Performance »Dirty Dancing - eine Dekonstruktion« lebenslanges Jazzdanceverbot habe und Gymnastikkeulen nicht mal mehr angucken darf.
»Na, dann passen Sie mal auf«, meint die Therapeutin und turnt vor. Das soll ich gleich nachmachen. Sie hebt den rechten Fuß hinters linke Ohr, schlingt ihr Knie um das Kinn und schiebt den Kopf unter der rechten Achselhöhle hindurch, dann verliere ich den Überblick. Aber die Feinheiten kann ich ja improvisieren, das Wesentliche habe ich mitbekommen. Ich fasse mir mit der linken Hand ans rechte Ohr und schaue meine Therapeutin triumphierend an. Für die Aufnahme in den Kindergarten hatte das damals gereicht, wenn ich mich recht erinnere. Auch meine Therapeutin ist begeistert. Sie klatscht in die Hände und lobt mich überschwänglich mit einer Stimme, die eigentlich für Bastelarbeiten unheilbar kranker Kinder reserviert ist: »Schön haben Sie das gemacht«, gurrt die Therapeutin. Das Lob wirkt, ich fühle mich sofort unheilbar krank.
Dritte Behandlung:
Heute machen wir Übungen zur Dehnung der Brustwirbelsäule. »Achten Sie ganz genau auf meine Brust«, sagt die Therapeutin, weil ich die Übung gleich nachmachen soll. Ich schaue auf unaufdringliche und vor allem nicht sexualisierte Art auf die Brust meiner Therapeutin. Das ist überhaupt kein Problem für mich. Normalerweise echt nicht, ich bin ja auch nicht mehr fünfzehn.
Anders sieht es allerdings aus, wenn man sich selbst beim Brustbeobachten beobachten muss, weil man vor einer mannshohen Spiegelwand steht. Das ist genau eine Metaebene zu viel, um noch annähernd unverkrampft zu wirken. Fragen drängen sich inquisitorisch auf: Gilt das noch als Gucken oder ist das schon Starren, Sportsfreund? Ist das noch Brust, oder sind das schon Brüste? Um mich nicht weiter dem selbst attestierten Starrvorwurf auszusetzen, beginne ich plötzlich, aus den Augenwinkeln zu schielen, und sehe endgültig aus wie ein debiler Triebtäter. Ich probiere es deswegen mit einem distanziert ironischen Blick auf die sich beugende Büste.
Das macht es nicht besser. Ich kneife die Augen zusammen, aber das wirkt überkritisch. Ich bin schließlich kein Anatomieskeptiker, der überall Fakes wittert. Es handelt sich übrigens um vollkommen faktische Brüste. Zumindest soweit ich das beurteilen kann, ohne hinzusehen. Denn ich bemerke plötzlich, dass ich angestrengt aus dem Fenster starre. Erstaunlicherweise sehe ich immer noch Brüste. Ich bin wohl doch immer noch fünfzehn. Doch plötzlich fährt der Busen weiter. Er war bloß auf einen Lkw geklebt. Eine Spedition wollte mittels Anatomiefotografie auf ihre Dienstleistungen aufmerksam machen. »Hatten Sie gewusst, dass es einen Markt für Oben-ohne-Umzüge gibt?«, frage ich meine Physiotherapeutin. Nein, das hat sie nicht gewusst.
Vierte Behandlung:
»Können Sie kurz so bleiben, das muss ich den Kollegen zeigen«, sagt der Therapeut.
»Klar, kann ich«, presse ich hervor. Ich kann nicht nur, ich muss sogar, denn ich habe mich versehentlich in eine höchstwahrscheinlich irreversible Körperhaltung begeben. Sie ist sehr schwer zu beschreiben. Irgendetwas zwischen Hocken, Kopfstand und Halbnelson, verquickt mit Yoga-Posen wie dem herabschauenden Hund oder dem gestrandeten Wal. Ohne fremde Hilfe werde ich jedenfalls nicht wieder hochkommen, zumal ich mich linksbeinig versehentlich in einer Sprossenwand verflochten habe. Mittlerweile sind die Kollegen zusammengetrommelt und stehen um mich herum.
»Ist das sein Rücken?«, fragt jemand und tippt an meine Hüfte. »Wie hat er denn das geschafft?«, will jemand anderes wissen. Das wüsste ich selber gern. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass dieser sehr junge Typ ohne ein Gramm Körperfett hereinstolziert kam und sich als mein neuer Physiotherapeut Malte vorgestellt hat. Dann hat er mich angeschaut und herablassend gesagt: »Na, dann wollen wir mal gucken, was Sie in Ihrem Alter überhaupt noch an Bewegungsfähigkeit haben!«
Es kann sein, dass ich in dieser Situation ein klein wenig kompetitiv reagiert habe.
Fünfte Behandlung:
Heute stärken wir meine Tiefenmuskulatur, sagt meine Physiotherapeutin.
»Och, ich hätte aber lieber Höhenmuskulatur«, antworte ich. »So Bizepshuckel halt.«
Sie verdreht die Augen und reicht mir winzige Hantelchen. Ich lache guttural. Mit diesen albernen Hanteln soll ich ein paar Übungen für weniger beanspruchte Muskelgruppen machen. Ich lasse mir natürlich schwerere geben.
»Das könnte aber etwas schmerzhaft werden!«, sagt die Physiotherapeutin, und ich lasse noch einmal mein gutturales Freibeuterlachen erklingen.
Am nächsten Morgen bin ich gelähmt. Ich habe Muskelkater an Stellen, die streng genommen gar nicht als Körperstellen gelten, weil sie sich nicht im selben Raum befinden wie mein Körper. Es ist mehr so ein kosmisches Aua.
Eine Woche später kann ich wieder aufstehen und nehme meinen nächsten KG-Termin wahr. Die Therapeutinnen und Therapeuten betrachte ich jetzt mit anderen Augen. Sie alle haben Tiefenmuskulatur. Man sieht sie nicht, man braucht sie nicht, aber es tut furchtbar weh, welche zu kriegen. Ihre Ausbildung bedeutet spirituelle Übung, bei der man keinen weltlichen Lohn erwarten darf, bloß endlosen, bohrenden Schmerz. Demütig empfange ich von der Gymnastin das allerkleinste Hantelchen. Ich bin nur ein unwissender Novize, und der Weg zur Erleuchtung der muskulären Tiefe ist steinig und voller Pein. Sobald die Therapeutin nicht hinschaut, schummele ich trotzdem bei den Übungen.
Sechste Behandlung:
Ich soll in eine Art Liegestütze gehen und dann Arme und Beine in die Höhe heben, sagt die Therapeutin. Ich gehorche prompt, weil ich endlich mal wieder gelobt werden will, und falle aufs Gesicht. »Doch nicht alle gleichzeitig«, meint sie augenrollend. »Sondern über Kreuz, jeweils nur einen Arm und ein Bein.« Ach so. Das muss einem doch gesagt werden. Ich hab das schließlich nicht studiert, ich hab ja nicht mal Tiefenmuskulatur.
Ich versuche es also über Kreuz. Für mich persönlich natürlich kein Problem, bloß mein Körper versteht es nicht. In der Physio erfährt man so viel Neues über sich selbst: Bei mir ist es zum Beispiel so, dass ich zwar über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfüge, aber zu blöd bin, gleichzeitig den rechten Arm und das linke Bein zu heben. Mein Körperkoordinationszentrum ist davon vollkommen überfordert, will es aber nicht zugeben und schleudert stattdessen wahllos Gliedmaßen in die Höhe. Dabei entsteht das expressionistische Ballett »Die fette Spinne tanzt den Adolf Hitler«, bis ich wieder aufs Gesicht falle.
»Wenn man sich ein wenig konzentriert, geht es besser«, meint die Therapeutin. Ich gehe in mich, konzentriere mich auf die Muskelstränge in meinem Körper, werde eins mit meinen Nervenbahnen, sause als elektrischer Impuls vom Hirn bis in die Fingerspitze. Jetzt geht es tatsächlich besser. Ich hebe erst den linken Arm und dann das rechte Bein. War das wirklich das rechte Bein? Ich schaue in den Spiegel, um meine Haltung zu überprüfen. Schon wieder falsch, es war doch das linke. Jetzt hebe ich wirklich das rechte Bein und schaue wieder in den Spiegel. Jetzt habe ich vergessen, das linke Bein wieder runterzunehmen …
»Mache ich das so richtig?«, frage ich unsicher, aber die Therapeutin ist sich schon wieder einen Kaffee holen gegangen.
…
Christian Bartel
Ich bin nicht in meinem Alter!
Satyr-Verlag
200 S., kt., 15 €
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