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Ausgeliefert
Eine 85-jährige Berlinerin wird von ihrer amtlich bestellten Betreuerin um ihr Hab und Gut gebracht. Ein Fall von vielen
Ein paar Leute hatten Anna König* schon abgeschrieben. Kurz vor ihrem 85. Geburtstag erlitt die Seniorin in ihrer Wohnung in Berlin-Pankow einen doppelten Oberschenkelhalsbruch und musste ins Krankenhaus. Das war im Mai 2020, als sich die Corona-Pandemie schon ausgebreitet hatte. Die Seniorin wurde operiert und lag anschließend einige Wochen in der Klinik. Da sie alleinstehend und ohne Angehörige ist - ihr Mann ist bereits 2008 verstorben -, wurde ihr vom Sozialdienst des Krankenhauses eine amtliche Betreuerin zugewiesen.
Der Sozialdienst kümmerte sich um einen Platz in einer Rehaklinik, wohin Anna König dann direkt aus dem Krankenhaus gebracht wurde. Um ihren Geburtstag am 11. Juli herum stellte sich dort dann auch ihre zugewiesene Betreuerin persönlich vor. Sie erinnert sich noch, wie diese gefragt hatte, was sie denn für sie tun könne, und die Seniorin bat darum, die Kleidung ihres verstorbenen Mannes zur Kleiderspende zu bringen. Die Sachen hingen zu diesem Zeitpunkt schon fast zwölf Jahre dort - nun wollte sie sich von ihnen trennen. Auch der Schrank im Flur könne entsorgt werden, wünschte sie sich von ihrer Betreuerin. Mehr jedoch nicht.
Als die 85-Jährige wenige Wochen später aus der Rehaklinik entlassen wurde und nach Hause kam, traute sie ihren Augen nicht: Ein Mann und eine Frau waren gerade dabei, ihre Wohnung leer zu räumen. Die Teppiche standen zusammengerollt in einer Ecke des Wohnzimmers, während die beiden Fremden gerade die Schrankwand ausräumten. »Das Schlafzimmer war schon komplett leer - Bett und großer Kleiderschrank waren einfach nicht mehr da«, erinnert sie sich. Ihr sei auch sofort aufgefallen, dass das teure japanische Teeservice gefehlt habe, genau wie die Sammeltassen, die zuvor mehrere Regale schmückten. »Die janzen Filetstücke wan weg jewesen«, sagt die Ur-Berlinerin sarkastisch.
»Legalisierte Vermögensvernichtung« nennt das Rechtsanwalt Volker Thieler. Der Experte für Betreuungsrecht kennt Hunderte solcher Fälle wie den von Anna König. Er führt sie auf eine Lücke in Artikel 14 des Grundgesetzes zurück, der das Eigentum regelt. Dieser kollidiere aber mit dem Betreuungsgesetz. Hinzu komme, dass es viel zu wenig Kontrolle in dieser Branche gebe und auch keine spezielle Ausbildung für Betreuer*innen.
Der Rechtsanwalt erstellt gerade eine Dokumentation über solche Fälle wie bei Anna König. »Die nun abgewählte Bundesregierung sah da keinen Handlungsbedarf, obwohl es sich um eine unglaubliche Rechtsverletzung handelt«, kritisiert er. »Denn durch das Vernichten des Eigentums der alten Menschen wird für die jeweiligen Familien oft auch die Erinnerung sowohl an die eigene Kindheit als auch an die Eltern ausgelöscht.« Oft würden alle Fotoalben und gesamte Familienarchive vernichtet. Volker Thieler nennt dies einen Skandal, und er wundert sich, dass Betreuungsexperten, Gerichte und Gesetzgeber darüber schweigen.
Anna König sitzt in ihrer halbwegs wieder hergerichteten Wohnung und sagt: »Die haben wohl geglaubt, dass ich nicht mehr in meine Wohnung zurückkehre und dass das alles niemand infrage stellt.« Aber sie wurde gesund, womit ihre Betreuerin offenbar nicht mehr gerechnet hat. Es hätte ihr auch so gehen können wie Peter Wimmer aus dem oberbayerischen Holzkirchen. Dessen Betreuer hatte den damals 57-Jährigen nach einem Krankenhausaufenthalt wegen Nierenversagens zur Kurzzeitpflege in ein Altersheim bringen lassen und noch am selben Tag Wimmers Wohnung aufgelöst, berichtet Thieler, der sich Wimmers Fall angenommen hat. Kurzzeitpflege bedeutet eigentlich sechs bis acht Wochen - Peter Wimmer aber blieb mehr als zwei Jahre im Pflegeheim, bevor er in die Wohnungslosigkeit geschickt wurde. Nun versucht er, sich in sein Leben zurückzukämpfen.
Bei der Stiftung Patientenschutz ist das Problem hinlänglich bekannt. »An unserem bundesweiten Telefon hört unser Beraterteam regelmäßig von solchen Fällen«, berichtet deren Pressesprecherin Berit Leinwand. Wie viele solcher schicksalhaften Fälle es bundesweit genau gibt, lässt sich nur erahnen. Dazu werde keine Statistik geführt, bedauert Leinwand.
Die Berliner Polizei hat entsprechende Fälle für die Hauptstadt zusammengetragen. Die Zahl der Ermittlungsverfahren zu amtlich bestellten Betreuerinnen und Betreuern liege seit Jahren »im mittleren zweistelligen Bereich«, sagt Polizeisprecher Martin Stralau. 2017 gab es demnach 66 diesbezügliche Ermittlungsverfahren, 2018 waren es 40, im Jahr darauf 46 und 2020 waren es 52. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer um einiges höher liegt. Eine Einschätzung, wie viele sogenannte schwarze Schafe es in dieser Branche gibt, sei nicht möglich, so Stralau.
Als Anna König aus der Reha in ihre Pankower Wohnung zurückkehrte, war schnell klar, dass der Mann und die Frau, die sich dort zu schaffen machten, von der amtlichen Betreuerin beauftragt gewesen waren. Natürlich auf Kosten der Seniorin. Ein paar Tage später nämlich stellte sich die Betreuerin persönlich in Frau Königs Wohnung ein und eröffnet der Rentnerin, dass sie für die Beräumung 10 000 Euro zahlen solle. Mit der Unterstützung von Jens Winkelmann, einem Bekannten aus der Nachbarschaft, an den sich Anna König in ihrer Not bereits zuvor gewandt hatte, war sie aber in der Lage, diese dreiste Forderung abzulehnen.
Dennoch war die Seniorin geschockt. Sie hatte der Betreuerin bei deren Besuch in der Rehaklinik gesagt, die in einer Schublade im Wohnzimmer liegenden 1000 Euro könne diese nehmen, um die Helfer für die Entsorgung der Kleidung ihres verstorbenen Mannes und des Flurschranks zu bezahlen. Das Geld war weg. »Vermutlich war es diese wohlmeinende Gutgläubigkeit, die die Betreuerin und ihre Helfer darauf brachten, dass hier noch viel mehr zu holen ist«, spekuliert Jens Winkelmann. Ohne ihn hätte die Seniorin den Kampf um ihr gestohlenes Geld und die Wertsachen nicht mehr aufgenommen. »In meinem Alter«, winkt sie ab. Doch Jens Winkelmann, der jetzt auch der ehrenamtliche Betreuer von Anna König ist, sieht sie ermutigend an. »Wir lassen uns doch nicht kleinkriegen, oder?«, sagt der 62-Jährige etwas lauter in ihre Richtung. Sie lächelt kurz.
Die ehemalige Betreuerin wollte sich gegenüber dem »nd« nicht zu den Vorfällen äußern. Und auch der ambulante Pflegedienst, mit dem diese damals zusammengearbeitet hatte, gab sich bedeckt: »Wir arbeiten mit Frau K. nicht mehr zusammen«, heißt es auf eine Anfrage. »Sie war bei uns nie angestellt und wurde vom Amtsgericht bestellt. Aus unserer Sicht gab es keine Pflichtverletzungen von Frau K., die wir als zuverlässige Betreuerin von Frau König* erlebt haben.«
Die Vollmachten der amtlichen Betreuungskräfte sind sehr weitreichend. »Der gesetzlich bestellte Betreuer ist nach dem Betreuungsgesetz für alle Eigentumsgegenstände in der Wohnung der betreuten Person verantwortlich«, erklärt Rechtsanwalt Thieler. Er ist zugleich Vorstandsvorsitzender der Kester-Haeusler-Stiftung, die sich auf Missbrauchsfälle im Betreuungsrecht spezialisiert hat. »In der Praxis ist es oft so, dass der Betreuer ohne Rücksprache mit der betreuten Person die Gegenstände aus der Wohnung dann meist verkauft oder einem Entsorger übergibt«, bestätigt er. Das ursächliche Problem aber sei, dass die Betreuer*innen oft von den Sozialbehörden gezwungen würden, die Wohnungen von Betreuten zu räumen, damit diese nicht für die Mietkosten aufkommen müssen, erläutert Thieler.
Auf die Behörden ist auch Jens Winkelmann schlecht zu sprechen. Den Weg durch die Instanzen, den er für Anna König seit Monaten beschreitet, nennt er einen Sumpf. Unzählige Schreiben an das Amtsgericht Pankow und an die zuständige Betreuungsbehörde, die er bereits abgeschickt hat, blieben entweder unbeantwortet oder vertröstend. Erst vor einigen Tagen hat Anna König den Schlussbericht ihrer ehemaligen Betreuerin erhalten - der hätte eigentlich bereits im März bei der Betreuungsbehörde vorliegen müssen. Aus dem Bericht geht weder hervor, wofür die Betreuerin die insgesamt 7100 Euro von der Seniorin berechnet hat, noch was sie mit den Möbeln und Sammlerstücken gemacht hat, die laut Anna König einen Wert von mehreren Tausend Euro hatten.
Hartnäckig versuchte die Betreuerin, an das Geld zu gelangen. Ein paar Tage, nachdem Anna König die Zahlung der von ihr geforderten 10 000 Euro abgelehnt hatte, kam die Betreuerin noch mal zu ihr in die Wohnung. »Unter Tränen sagte sie zu mir, dass ihr leidtäte, wie das alles gelaufen ist«, erinnert sich Anna König. »Und dann bat sie: ›Können sie mir wenigstens 3000 Euro zahlen?‹« Die alte Frau ließ sich auch darauf nicht ein. Zehn Tage später fiel sie beim Blick auf ihren Kontoauszug aber erneut aus allen Wolken: Die Betreuerin hatte 6100 Euro von ihrem Konto abgehoben. Sie hatte ja noch die Vollmacht.
Nach dem ersten Schock setzten sich Anna König und Jens Winkelmann zusammen und überlegten, wie sie gegen diesen Missbrauch und den Betrug vorgehen könnten. Mehr als ein Jahr ist seitdem vergangen, und trotz der vielen Anschreiben und sonstigen Bemühungen hat sich fast nichts gerührt. Über den Behördenweg sieht Jens Winkelmann mittlerweile keine Chance mehr für Anna König, zu ihrem Recht zu kommen. Es werde zu viel verdeckt, verschleiert und vertuscht, meint er, auch wenn er das nicht immer beweisen kann. Nun wollen die beiden das gestohlene Geld über den zivilgerichtlichen Klageweg direkt von der ehemaligen Betreuerin zurückholen.
Die sich aufdrängende Frage bei der ganzen Sache ist für Jens Winkelmann klar: »Wer überwacht und kontrolliert eigentlich die Arbeit der amtlich bestellten Betreuer und Betreuerinnen, wenn die betroffene Person keine Angehörigen hat, die die Betreuung kritisch begleiten können?« Als er diese Frage an das betreffende Betreuungsgericht stellte, habe es von dort lediglich geheißen: »Bei vermuteten Unregelmäßigkeiten muss die betroffene Person ihre Betreuerin oder ihren Betreuer selbst verklagen.«
Für Anna König ist das alles ein Skandal. »Es wurden ja nebenher auch Gegenstände im Wert von etwa 5000 Euro aus der Wohnung entsorgt«, malt sie beim letzten Wort mit ihren Fingern zwei Anführungszeichen in die Luft. »Das waren zum Teil nagelneue Dinge«, fügt sie hinzu. Jens Winkelmann versucht sie daraufhin wieder mit einem aufmunternden Blick zu bestärken, doch auch er weiß, wie schwer der Klageweg wird. »Wir haben ja kaum Belege, das ist schon echt gewieft. Ich befürchte mittlerweile, dass die ehemalige Betreuerin das nicht zum ersten Mal gemacht hat«, mutmaßt er und verspricht, dass für ihn und Anna König die Geschichte noch längst nicht zu Ende sei. »Das verlangt von mir schon allein mein Gerechtigkeitssinn.«
* Name geändert
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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