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Der Täter, den ich verfolge, bin ich
Das Berliner Gefangenen-Theater aufBruch zeigt in der JVA Tegel »Ödipus, Tyrann«
Für den, der hier nicht eingesperrt ist, scheint dies ein fast idyllischer Ort: die Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel an einem späten Herbstnachmittag im Abendlicht. Ein Backsteinbau-Areal, erbaut um 1900 nach dem »Philadelphia-Modell«, das die Quäker in den USA begründet hatten. Gefangene sind auch Menschen, brauchen Licht und Luft! So die Maxime dieser religiös motivierten Menschenfreunde. Große Fenster und Freiflächen prägen den Bau. Die Gitter wurden zumeist den Fensterstreben angepasst, sollen unsichtbar wirken. Jetzt blühen hier letzte Sonnenblumen.
Man geht als Besucher immer dem Mann mit den großen Schlüsseln hinterher, das ist der »Schließer«, vielbeschäftigt in einem Gefängnis: lauter Türen und Tor wollen auf- und wieder zugeschlossen werden - nur die letzte, die ins Freie geht, bleibt den Insassen bis zuletzt versperrt. Schon Alfred Döblin lässt seinen Franz Biberkopf in »Berlin, Alexanderplatz« aus dem Tor dieses Gefängnisses treten. Oft dauert es viele Jahre, bis die Gefangenen wieder in Freie kommen. Manche, die mit dem Urteil »lebenslänglich plus zusätzlicher Sicherungsverwahrung«, werden diesen Ort gar nicht mehr lebend verlassen.
Es ist also ein merkwürdiger Besuch in der JVA Tegel, für einige Stunden nur. Man kommt an Werkstätten, gut gepflegten Gärten, dem Sportplatz und der obligatorischen Kirche vorbei in die - derzeit leerstehende - Teilanstalt III. Diese dient als sogenannte Haftraumreserve. Wenn es einmal plötzlich sehr viele Gefangene auf einmal zu »verwahren« gilt, hier wäre der Platz dafür. Das riesige Gebäude wirkt wie ein Palast der Unfreiheit. Vom Sternfoyer gehen in mehrere Richtungen Flure ab, offene Galerien erheben sich auf drei Etagen, dort liegen die Zellen, Hunderte, deren Türen sich nur von außen öffnen lassen und zusätzlich mit schweren Riegeln versehen sind. Doch immerhin, keine dunklen Kerker oder feuchte Katakomben, sondern ein technisch optimierter Ort, Menschen wegzusperren. Aber auch dies ist inzwischen schon eine Art Museum, denn neue Gefängnisse wie das in Heidering, wo das aufBruch-Gefangenentheater ebenfalls arbeitet, sparen die Mauern fast ganz, Glas und Metall vermitteln dort den trügerischen Eindruck von Transparenz. Eingesperrt aber ist man hier wie dort, ausgeliefert den Herren über die Schlüssel.
Dieser Teil des Tegeler Gefängnisses also ist der Spielort für Heiner Müllers »Ödipus Tyrann«. Es ist ein bereits von seiner Anlage her theatralischer Ort. Mit seinen Foyers, Kuppeln und Rängen hat er etwas von einer Kathedrale, einem Grandhotel oder Opernhaus, aber ins Negative, ins Alptraumhafte gewendet. Hier war auch schon der Spielort für Heiner Müllers »Philoktet« (2015) und Beethovens »Fidelio« (2020).
Müllers Text über Ödipus ist eine Adaption des Stücks von Sophokles. Peter Atanassow und sein Dramaturg Hans-Dieter Schütt versetzen diesen jedoch mit endzeitlichen Passagen von Ionesco und Beckett, als wäre im Müller-Text noch nicht Gift genug: Grundthema der Inszenierung ist die Angst. Sie treibt uns voran, immer weiter, bis in die Selbstzerstörung.
Die erste Szene im Sternfoyer ist stumm. Eine Gruppe in schwarze Mäntel gehüllter Männer mit Pest-Schnabelmasken, die halb wie Fabelwesen, halb wie dunkel eingefärbte Ku-Klux-Klan-Gestalten wirken, tanzen einen rituellen Tanz. Eine Beschwörung, ein Vorspiel für all das Ungute, das nun folgen wird. Die Szenerie scheint ebenso altbekannt wie in seinen überraschenden Wendungen immer wieder wie neu. Ödipus ermordet seinen Vater Laios und heiratet seine Mutter Jokaste, beides völlig unwissend. Hätte er es ahnen können? War dem Findelkind doch einst prophezeit worden, er würde seinen Vater töten und in Blutschande mit seiner Mutter leben. Er glaubte sich gerade davor gehütet zu haben, doch er irrte. So etwas nennt man Ironie des Schicksals, oder wie Gottfried Benn es formulierte, der Weltgeist überstehe die Niagarafälle, um in der Badewanne zu ertrinken. Ist Praxis blind, wird der Handelnde immer schuldig?
Handlungen zeugen wieder Handlungen. Und deren Logik scheint schicksalhaft. Man glaubt das Ziel des eigenen Tuns vor Augen zu haben, jedoch, dieses Bild ist eine Täuschung. Denn während man sich als Urheber des eigenen Handelns dünkt, ist man zugleich den Folgen fremder Taten ausgesetzt. Aus klarer Absicht wird so trübe Verstrickung. Das muss Ödipus erfahren, der blind für den wahren Zusammenhang seiner Existenz mit den geschehenen Verbrechen ist, als er beginnt, diese energisch aufzuklären. Der neue König Ödipus, Ehemann seiner Mutter Jokaste, fordert: Sucht den Mörder von König Laios! Der Steckbrief dieses Auftrags aber ist sein eigenes Bild im Spiegel. Da arbeitet jemand daran, die Wahrheit über ein Verbrechen herauszufinden und ahnt nicht, dass er sich selbst sucht.
Ein Dutzend Gefangene, von denen die meisten bereits in »Fidelio« an gleichem Ort spielten, bilden das Tegeler Ensemble, Chor und Hauptakteure in jenem antiken Stück, das so erstaunlich gegenwärtig wirkt. Frappierend spielstark sind sie, vor allem Resul Tat als Kreon, Paul E. als Ödipus und Peter Maier als Jokaste (letzterer auch mit einer schwierigen Arie aus der Oper »Oedipus Rex« von Igor Strawinsky). Da entsteht eine Energie, die von den schier endlosen Fluren und den steilen Metall-Treppen, die ins Nichts zu führen scheinen, noch verstärkt wird. Dazu die ebenso sparsamen wie durchdringenden Klänge eines E-Pianos (Musik: Vsevolod Silkin). Teiresias (Kurt Lummert), der blinde Seher im Rollstuhl, kennt die Zusammenhänge um Ödipus, weiß, dass dieser, je näher er der Wahrheit kommt, auch dem eigenen Ende näher rückt. »Der Fall, den der Ermittler löst, wird ihn fällen«, so Hans-Dieter Schütt.
Doch auf diese antike Geschichte einer verstrickungsreichen Schuld, die gnadenlos denjenigen, der sie ans Licht bringt, vernichtet, legt sich eine zweite metaphorische Ebene, die für das aufBruch-Team ebenso wichtig ist. »Unmaß pflanzt Tyrannen«, heißt es bei Heiner Müller - und so blicken wir in den Maschinenraum der Macht, mitsamt der ihr inne wohnenden Tendenz zur absoluten Macht. Der äußere Anlass: Die Pest ist in der Stadt! Der Anfang also gehört Ionesco und seiner Logik der Angst, die metastasiert: »Es sind nicht einzelne Fälle, hier ein Toter, da ein Toter, damit könnte man sich schlimmstenfalls abfinden. Nein, es werden immer mehr. Eine geometrische Progression des Todes.« Und wie Camus, der in seinem Roman »Die Pest« die Krankheit zum Symbol des sich anbahnenden gesellschaftlichen Umsturzes nimmt, so dekliniert auch aufBruch die brüchig gewordenen Scheinformen unserer Existenz durch: Man glaubt sich als Einzelner und als Staat sicher, ein fest gegründetes Gebäude und die oberen Stockwerken immer weiter ausbaubar - da sacken unten die die Fundamente weg und alles liegt in Trümmern.Davor hat jeder eine heimliche Angst, dagegen wurden Krankenversicherungen und Staatssicherheitsbehörden geschaffen. Aber gegen den grassierenden Tod scheinen sie machtlos. Die Pest spricht: »Aber auch ich habe gelernt von euch. Zu viele Tote bringen nichts. Sie ersetzen den guten Bürger nicht, der ein guter Bürger ist, weil er Angst hat. Wir haben gute Arbeit geleistet, denn ihr habt Angst und werdet sie nicht wieder los. Eines Tages werden gar keine Opfer mehr nötig sein. Weil die Angstreserven so groß sind.« Was kann der Chor darauf noch antworten, als: »Krank ist mir das ganze Volk. Nicht einem wächst, zu schützen uns, aus Gedanken ein Speer.« Und so zeugt sich dieser Gedanke fort, hebt die dünne Decke unserer Zivilisation immer wieder einige Handbreit auf: Darunter lauert jene Macht, die gut von Notwendigkeiten zu reden weiß und schlecht das Gut der Freiheit für alle hütet. Wo beginnt Despotie? Dort, wo man die Gegenrede anderer nicht mehr achtet, sondern unter Verdacht stellt. Die Sprache, zum bloßes Instrument erniedrigt, verliert die Fähigkeit wahr zu sprechen. Die gute Absicht degeneriert zu bloßer Rhetorik, die im eigenen Auftrag lügt.
Eine Lehrstunde in Dialektik, die den Widerspruch in uns wie in der Geschichte nicht bereinigt, sondern auszudrücken versucht. Die Gefangenen wissen oft mehr davon als die in in Freiheit Lebenden, weil Ausdrucksnot in ihnen arbeitet. So hören wir denn die Stimmen des Ensembles zu dieser wahrlich meisterlichen, weil form- und gedankenstrengen Inszenierung, die das Programmheft versammelt. Darunter diese: »Die Suche nach dem Ich gleicht der Suche nach dem Alles oder Nichts. Die Zerrissenheit bleibt dem wahrhaft Suchenden immer erhalten.«
Nächste Vorstellungen in der JVA Tegel am 5., 10., 11. und 12. November, jeweils 18 Uhr (Anmeldung unter aufBruch@gefaengnistheater.de, mindestens fünf Tage im Voraus)
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