Unser Reich komme

Wohin führt die Dialektik der Globalisierung? Hinter allen Widersprüchen ist längst eine neue Ordnung erkennbar, die durch Technologie und globale Systemsteuerung zusammengehalten wird - und durch eine Politik des Schulterzuckens

  • Moritz Rudolph
  • Lesedauer: 15 Min.

Dass die Globalisierung irreversibel ist, hat man nie so ganz geglaubt. Denn was gilt schon ewig? Genauso unglaubwürdig klingen jedoch nostalgische Rückbaufantasien, die hinter den Urknall zurückwollen, als wäre nichts geschehen. Vermutlich berühren beide Positionen einen Teil der Globalisierungswahrheit, die zwischen Ausdehnung und Zusammenziehen, zwischen Expansion und Kontraktion schwankt, sodass jeder seinen Glaubenswunsch daraus ziehen kann. Nimmt man sie jedoch zusammen, ergeben sie ein Laufbild, das stets woanders hinwill, erst im Davonlaufen zu sich kommt und so eine »Einheit von der Kontinuität und der Diskontinuität« (Theodor W. Adorno) bildet: Die bisherige Geschichte hat gezeigt, wie der weltweite Austausch von Waren, Informationen und Menschen seit dem Spätmittelalter immer wieder Anläufe genommen hat, die jäh unterbrochen wurden - von der Pest, dem Dreißigjährigen Krieg, Napoleon und zwei Weltkriegen. Doch die Globalisierung kam immer wieder auf die Beine und schien an ihren Rückschlägen sogar zu wachsen. Jedes Mal setzte sie ihren Expansionskurs fort, intensiver und raumgreifender als zuvor. Auf die Pest folgte die iberische Expansion in Übersee und auf den Dreißigjährigen Krieg der nordatlantische Übergang von der Abschöpfungs- zur Besiedlungskolonie. Die Napoleonischen Kriege exportierten mit dem Code Civile das Regelwerk der bürgerlichen Globalgesellschaft. Zwar wurde sie 1914 ausgebremst, aber nach dem Zweiten Weltkrieg machte sie weiter und bekam überstaatliche Institutionen zur Unterstützung. Zuletzt erlebten wir ihre intensivste Phase. Nach 1989 schienen wir auf dem Weg in die »Eine Welt« zu sein - ökonomisch, technologisch, kulturell und politisch.

Die Geschichte im Remix

Doch nun steht der Globalisierung wohl erneut eine Kontraktion bevor. Schon in den 2010er Jahren hatte sich das Wachstum des Welthandels verlangsamt, eine neusouveränistische Avantgarde um Trump, Modi, Orbán, Bolsonaro und die Brexiteers sträubte sich gegen den Kontrollverlust durch die Globalisierung. Das Coronavirus schien ihr den Rest zu geben. Flugzeuge blieben am Boden, Grenzen wurden dichtgemacht, der Welthandel brach ein und aus dem Chaos erhob sich ein neuer Großmachtkonflikt zwischen den USA und China, der die Welt in zwei Lager teilt. Die Globalisierung hatte einen Knacks bekommen. Doch es ist ein Knacks neuer Art. Er wiederholt nicht die nationalstaatliche Feindschaft (1914-1945) oder die ideologische Konfrontation (»Kalter Krieg«) des 20. Jahrhunderts. Auch steht uns wohl nicht der antistaatliche Zerfall des Dreißigjährigen Krieges bevor, die aggressive Verbreitung der napoleonischen Idee oder die Auflösung der interkontinentalen Verbindungen durch eine Seuche, wie im Jahr 1348. Nichts davon tritt heute in Reinform auf, von allem aber ein bisschen. Die Kontraktion erfindet sich neu, indem sie nichts Neues hinzufügt, sondern ihre eigene Geschichte rezitiert. Alle Elemente kehren derzeit wieder: Die Seuche, die zerbröselnde Souveränität durch das Auftauchen nichtstaatlicher Akteure (Firmen, Banden, transnationale Zivilgesellschaft), Versuche einer staatlichen Abschottung (Rechtspopulismus). Hinzu kommt das Ringen zwischen Kapitalismus und Kommunismus als Fortsetzung der Streitigkeiten um das Erbe der Französischen Revolution, für deren Beurteilung es nach Zhou Enlai bekanntlich noch »zu früh« sei. All dies verbindet sich im frühen 21. Jahrhundert miteinander - 1348, 1618, 1789 ff., 1914 und die Expansionshemmung von 1945 bis 1989 fallen zusammen und verlieren dabei etwas von ihrem Schrecken.

Wir können zurzeit beobachten, wie die Globalisierung in zwei Räume zerfällt, zwei Blöcke, einen amerikanischen und einen chinesischen, die dennoch miteinander verbunden bleiben - es gibt ja weiterhin Warenströme, das »Decoupling« wird Grenzen haben. China schmiedet Handelsbündnisse mit westlichen Staaten (Neue Seidenstraße und RCEP-Abkommen), will dem Westen die Netzinfrastruktur liefern (Huaweis 5G-Versuch), seine Firmen (Iveco) und Häfen (Piräus) übernehmen. Es spricht die Sprache von Kapital und Technologie und die versteht der Westen. China tüftelt an Künstlicher Intelligenz, ist in der Gesichtserkennung bereits führend, seine Start-ups aus Shenzhen nagen am Tech-Monopol des Silicon Valley. Und Xi Jinping schickt seine Kinder zum Studieren nach Harvard, weil er weiß, dass man vom Westen etwas lernen kann. Umgekehrt gibt es amerikanische Firmen - die wichtigsten vielleicht -, die den Worten des »Großen Vorsitzenden Jobs«, gemeint ist der 2011 verstorbene Apple-Chef Steve Jobs, folgten oder einen »digitalen Maoismus« pflegen, wie der Internet-Theoretiker Jaron Lanier über Wikipedia sagte.

Mit seinem »New New Deal« ahmt US-Präsident Joe Biden neuerdings die staatswirtschaftlichen Methoden Chinas nach. Und insgeheim bewundern wohl sogar Chinaskeptiker Peking für die erfolgreiche Eindämmung des Coronavirus. Die ungeheure Mobilisierung von Menschen und Material bei gleichzeitiger Demobilisierung einer ganzen Region zeugen von einer Kraft, die dem Westen zu fehlen scheint. Bei den Offensivmaßnahmen hingegen ist der Westen erfolgreicher. Er impft schneller und entwickelt bessere Seren. Bei der Impfstoffverteilung an arme Länder, also der Herstellung der Weltgemeinschaft, ist China hingegen Vorreiter. Sich schützen und das Virus angreifen, Defensiv- und Offensivkunst im Ringen mit der Natur - vielleicht sind das die beiden Bestandteile der heraufziehenden Globalsynthese, deren Arbeitsteilung schon im Namen der ozeanischen Lage vorweggenommen wird: Die Pazifiker und die Atlantiker, die Ruhigen und die Aufbrausenden, die Erdverbundenen und die Himmelsstürmer, die die Welt durch die Luft wirbeln. Zusammen werden sie die Welt erobern und beruhigen. Der Westen hat China mit dem Markt bekannt gemacht, China den Westen an den Staat erinnert. Überwölbt wird der frühere Gegensatz vom Zauberstrahl der Technokratie.

Geheimes Einverständnis

Der Westen und China betreten denselben Raum durch verschiedene Eingänge. In diesem Raum der behaglichen Wohlstandstechnokratie sprechen sie beinahe dieselbe Sprache, vielleicht mit unterschiedlichen Akzenten, einem anderen Slang und Stil, und sie müssen nur noch diesen einen Dissens ausräumen, dann kommt die Welt zusammen. Doch zunächst balgen sie sich noch ein wenig. Das dürfte jedoch nicht so schlimm werden. Zwar gibt es Säbelrasseln im Südchinesischen Meer, Konflikte um Taiwan, Tibet, Xinjiang und Hongkong, doch die USA werden Chinas regionalen Vormarsch kaum aufhalten können. Insgeheim verstehen sie wohl, dass Peking die nahe Außensphäre nicht preisgeben wird. Aber sie müssen so tun, als verstünden sie es nicht. Im Hintergrund wird derweil an globalen Problemen gearbeitet, und zwar gemeinsam: Klimawandel und Viren diktieren die Agenda. Was früher die Welt spaltete, die Verbindungen unterbrach, führt sie heute zusammen, weil man das Virus mittlerweile einhegen kann - aber eben nur, wenn die Anstrengungen weltweit koordiniert werden. Weil die globale Daseinsform zum Schicksal wurde, ist es das Virus nicht mehr - zumindest nicht in seiner Tödlichkeit, wohl aber in seiner Funktion als negativer Weltverknüpfer.

Ähnlich ist es mit dem Klimawandel, der früher - in Gestalt einer frühneuzeitlichen kleinen Eiszeit - zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges beitrug und damit die Globalisierung unterbrach, heute aber die Globalisierung der Politik vorantreibt. Natürlich kann er kurzfristig zu Verwerfungen führen - Klimakriege, Wasserkämpfe und Konflikte um fruchtbares Land sind nicht auszuschließen. Aber irgendwann wird man die Anpassung an den Klimawandel als gemeinsame Menschheitsaufgabe erkennen - weil er sich noch weniger als andere globale Kräfte um Grenzen schert (die Pandemie liefert da nur einen Vorgeschmack). Zudem bringt die fortschreitende Technisierung der Welt immer mehr Technokraten an die Macht, die in Begriffen systemischer Steuerung denken. Und das System ist global. Also wird es auch die Politik - oder das, was von ihr übrig bleibt, nachdem sie den Heroismus abgestreift und sich zur problemlösungsorientierten Technik der Durchwurstelei entwickelt hat.

So konnten etwa, übertönt und geschützt vom Gepolter der Konfliktrhetorik, die Weltmächte in aller Ruhe eine globale Mindeststeuer vereinbaren. Der Beschluss enthält die Konturen einer negativen Weltsteuersouveränität. Wer den Steuerkorridor einschränkt, der sitzt insgeheim mit am Tisch, auch wenn er weder etwas zahlt noch etwas bekommt. Er ist ein geisterhafter Souverän wie Kaiser Friedrich II., nach den Worten des Historikers Ernst Kantorowicz »zugleich da und nicht da«, Vorbereiter der Weltwettbewerbsgemeinschaft, die die tödliche Feindschaft und in ein Spiel verwandelt. Selbst der Hauptkonflikt zwischen den angeblich verfeindeten Lagern wird auf gemeinsamem Terrain ausgetragen: Ein Handelskrieg ist kein richtiger Krieg, sondern ein Gerangel um Wohlstand. Man will den Lebensstandard heben, wünscht sich ein angenehmes Leben, Bequemlichkeit, effizientere Technologie, das Nichtabsolute. Niemand ist bereit, für Gemütlichkeit zu sterben. Da ist man sich grundsätzlich einig.

Der Krieg als Wettbewerb

Und so konkurrieren zwei Modelle miteinander, die sich ideologisch weniger unterscheiden als frühere Kontrahenten. Welcher Graben verlief noch zwischen Heiliger Allianz und frühliberalem Vorwesten, also zwischen Gott und Parlament?! Oder zwischen den Händlern und Helden von 1914, zwischen USA, Nazideutschland und Sowjetunion? Das waren Konflikte von existenzieller Tödlichkeit, die keine Kompromisse duldeten. Doch schon in der Spätphase des »Kalten Krieges« wurde dies merklich abgemildert. Man hatte sich aneinander gewöhnt, die Feindschaft verblasste. Im Hintergrund arbeiteten Technokraten, Forscherinnen, Planer und Kybernetiker eifrig an der verwalteten Welt, die die Blockgegensätze überbrückte. Zum Schluss bauchte es mit Ronald Reagan sogar einen Schauspieler als US-Präsidenten, um die Feindschaft glaubhaft zu versichern. Dennoch ließ der »Kalte Krieg« kaum Austausch zwischen den Blöcken zu. Es sickerten allenfalls ein paar Moden und Geschmäcker durch - einerseits Jeans und Beatles, die Idee des Kommunismus, abgemildert als die des Sozialstaats, andererseits - aber die Mauer blieb standhaft.

Heute werden zwar Grenzen hochgezogen, um einen Infektionsherd einzudämmen, doch nach einigen Monaten sind sie wieder geöffnet. Dem Internet droht zwar eine Zweiteilung, aber sie wird sich kaum durchhalten lassen - schließlich werden weiterhin Geschäfte im Gebiet des Gegners gemacht, und die benötigen das Netz. Und wenn das »Internet der Dinge« erst einmal da ist, wird es sich, beseelt vom Funken der Künstlichen Intelligenz, kaum um Servergrenzen scheren. Es wird sich einfach selbst mit den Apparaten verschalten, auch wenn diese außerhalb der Reichweite liegen, die die Regierungen ihm zubilligen. So enthält der Zankapfel der Gegenwart - Mikrochips aus Taiwan - den technologischen Einheitskern der Zukunft, zumal der Gesprächsfaden nie abreißt. Es gibt kein Schweigen zwischen den Weltmächten wie im »Kalten Krieg«. China engagiert sich in den multilateralen Institutionen, mitunter mehr als die USA. Die WHO ist inzwischen eine chinesische Einrichtung. Sie stellt das erste Dokument des Weltbürgertums aus, den Impfpass, der das Reisen und den Gang in Cafés und Geschäfte wieder ermöglicht. Auf diese Weise garantiert China jene spätbürgerliche Gesellschaft, die die Sowjetunion noch bekämpfen wollte.

Die USA hingegen, die jahrzehntelang für grenzenloses Wachstun standen, schwingen sich unter Biden zur ökologischen Macht auf. Sie haben einiges nachzuholen, was unter Trump versäumt wurde, während Xi Jinping die globale »ökologische Zivilisation« ausgerufen hatte. Es scheint ein Kampf darüber entbrannt zu sein, wer das Kämpfen zuerst aufgibt und sich durch vorbildliches Engagement hervortut. Deshalb gibt es - ein weiterer Unterschied zum »Kalten Krieg« - keine militärische Bedrohung des Westens durch China, eher eine regionale Selbstbezüglichkeit mit globalen Nebeneffekten, über die man sich einigen wird.

Buhlen um die Gunst der Welt

Unterdessen geht die größte Industrialisierung der Geschichte weiter. Sie ist in China noch nicht abgeschlossen, nimmt in Südostasien und Indien gerade erst Fahrt auf und steht Afrika erst noch bevor - Äthiopien, das im vergangenen Jahrzehnt die höchsten Wachstumsraten der Welt verzeichnete, könnte den Startschuss gegeben haben. Der Zerfall der Welt in zwei Blöcke dürfte die Industrialisierung Afrikas sogar noch anheizen, da man um die Gunst der aufstrebenden Staaten buhlt. Es geht nicht mehr um ideologische Herauslösung aus dem kapitalistischen oder kommunistischen Block, inklusive »Regime Change« und schmutziger CIA-KGB-Tricks. Alles läuft viel ruhiger ab. Es stehen sich zwei ähnliche Blöcke gegenüber und man kann sich für einen entscheiden; man kann sich auch umentscheiden. Zum ersten Mal unterliegt auch der Wettbewerb einem Wettbewerb. Er muss sich selbst anstrengen. Ausgerechnet in dem Moment, da sich das kapitalistische Monopol weltweit durchsetzt - weil es seit 1989 keine Alternative mehr gibt -, verliert der Kapitalismus sein Monopol, weil es nun konkurrierende Kapitalismusmodelle gibt, die sich gegenseitig übertrumpfen wollen.

So überlebt die Globalisierung ihre eigene Unterbrechung. Brauchte sie früher noch Jahrhunderte, um sich zu berappeln (nach der Pest dauerte es über 100 Jahre, bis das Projekt der Weltverknüpfung durch portugiesische und spanische Seefahrer wieder Fahrt aufnahm), sind es heute nur noch Monate. Und irgendwann werden es Millisekunden sein, so dass die hochbeschleunigte Bewegung eigentlich keine Bewegung mehr ist, sondern ein Wackelbild, ein explodierender Zeitpunkt.

Die Kontraktion hat dazugelernt: Sie kommt nicht als großer Knall daher. Leise, beinahe sanft wie ein Dieb in der Nacht stupst sie die unklare Welt zurück in eine Form. Diese Form sind nicht die Nationalstaaten. Es sind Großräume, Imperien, vor allem Nordamerika, Europa und China. Sie buhlen um die Gunst der Regionalmächte Russland, Indien oder Brasilien. Auch um den fragilsten Großraum, Europa, gibt es einen Kampf. Für welches Lager wird er sich entscheiden? Vor zehn Jahren wirkte er unentschieden, heute neigt er zu Amerika. Doch wer will ausschließen, dass sich Europa bald China zuwendet, mit dem es viel ältere Verbindungen hat als mit seinem amerikanischen Abkömmling? Amerika bietet ihm nichts Neues, gerade weil es so neu ist. Von China könnte es dagegen tatsächlich noch etwas lernen - und seien es nur Geschichten über den Anfang der Weltgeschichte und damit der eigenen.

Nach den Imperien kommt das »Reich«

Die Großräume sind noch nicht der letzte Einigungsschritt. Über ihnen liegen Westen und Osten, aus denen der Weltkonflikt hervorgeht, der im Hintergrund bereits an der Einheit arbeitet. Die Beteiligung Chinas an »Peacekeeping«-Missionen in Afrika zeigt, dass die Weltpolizei eine neue Abteilung bekommen hat. Ihre Gründung wäre nicht möglich gewesen, wenn der Graben zwischen den Kontrahenten tatsächlich so tief wäre, wie man sagt. (Dass die Unterschiede überzeichnet werden, gehört zum Wettbewerb dazu. Es ist Identitätspolitik zur Versicherung der Einzigartigkeit des eigenen Lagers. Nur so kann man politisch überhaupt etwas spüren. Nur so glaubt man zu wissen, woran man glaubt und wofür man einsteht. Doch insgeheim weiß man wohl um die Hinfälligkeit der Differenz). Sie führen keine ideologischen Konflikte um die Zukunft der Welt, sondern zwei Politlabore, die am selben Stoff forschen: an der Einheit der Welt, die sie in sich ausbilden, um sie anschließend der Welt zu präsentieren.

Eine solche Einheit wäre das wirkliche »Reich«, das die Schlacht der Imperien übertrifft und Max Webers globale »Diktatur des Beamten« installiert, nachdem die des »Arbeiters« gescheitert ist. In den vergangenen 100 Jahren ist etwas hinzugekommen, das selbst der resignationsbereite Weber noch nicht auf dem Schirm hatte: Die Explosion der Technik, die Erfindung von Robotern, Computern und dem Internet, die sich eines Tages verselbstständigen könnten. So verbinden sich zwei Linien miteinander, die die Zivilisation entwickelt hat, um die Natur (durch Technik) und sich selbst (durch Politik) zu unterwerfen. Ihre Konvergenz kehrt die Wirkrichtung um: Die Herrschaft verschwindet aus den menschlichen Angelegenheiten und kehrt wieder in Gestalt einer zweiten Natur.

Das Reich ist die Gestalt der Zukunft, die globale kybernetische Selbststeuerung, die Verschaltung der Apparate zur Herstellung des Friedens zwischen den Menschen und mit der Natur. Anfangs mögen noch ein paar Technokraten ihre Finger im Spiel haben - der Bedeutungszuwachs der Ärzte in der Pandemie und der Klimaforscher durch die neuen Umweltbewegungen (»Follow the Science!«) ergänzt das Heer der Ökonominnen, Ingenieure, Juristinnen, Psychologen, Politikberaterinnen, Verkehrswissenschaftler, Technikerinnen und Statistiker aller Art, die den Staat schmieden. Doch irgendwann stören auch sie. Denn sie sind noch immer Menschen und damit fehleranfällig. Sie müssen verschwinden, sobald sich die Materie selbst steuern kann. Dann ist das Reich, das im Vaterunser angekündigt wird, da. Es ist das Absolute, das Losgelöste, das durch Steigerung des Bodenständigen, Konkreten, Praktischen, Technischen, das ins Unerreichbare umschlägt, errichtet wird.

Das Reich ist das Unpolitische. Es ist der dritte Weg, der die Wahl zwischen einer Politik der Freundschaft oder Feindschaft umgeht und die Politik des Schulterzuckens, der pragmatischen Loyalität mit den Apparaten, einführt. Sie sagt sich: In Ordnung, »es sollen die Wissenden regieren« (Hegel) - besser noch das materialisierte Wissen selbst. Und so geht das Reich nicht aus einem Eroberungsfeldzug hervor, sondern aus der nüchternen Einsicht in die Notwendigkeit der Planung, Koordinierung und Stabilisierung. (Es ähnelt eher dem Vorgehen des ägyptischen Baumeisters Imhotep als Alexanders und Napoleons Heldentaten). Es reißt die Kompetenzen nicht an sich. Das Reich besteht aus lauter kleinen Einheiten. Formal verfügen sie über Souveränität, entscheiden über Grenzöffnungen und -schließungen, erheben Steuern und betreiben Wirtschaftsförderung, stellen Armee und Polizei. Doch zusammengehalten werden sie von einem Set von Menschheitsaufgaben - Seuchenschutz, Anpassung an den Klimawandel, Lenkung der Migrationsströme, Stabilisierung der Finanzmärkte und Technikkontrolle -, die der Souveränität vorausgehen.

Diese Aufgaben zwingen die Souveränität zu einer Reaktion, sind also die Bedingung ihrer Möglichkeit, der Souveränitätshintergrund. Das Reich ist die Superstruktur der Politik, die Klammer aus Verwaltungsdruck, Technologie und Religion, die alles zusammenhält. Über eigene Handlungskompetenz verfügt es nicht, aber es stiftet das Bewusstsein vom globalen Zwang - so wie das mittelalterliche Reich das Bewusstsein der Christenheit wachhielt. Das heutige Reich dreht diesen Positivglauben der Hinführung zu Christus um und stützt sich auf den Negativglauben der Verhinderung schlimmer Dinge. Das Reich schwebt über den Dingen und leitet sie an. Der Glaube an die Einheit stiftet die Politik in den Einheiten, die damit verschwindet. Sie reagiert auf Impulse, verwaltet Sachzwänge und überlässt die Entscheidung den Maschinen, die zwar nicht denken, aber intelligenter und präziser arbeiten können als wir.

Vielleicht haben wir es mit wechselnden Dynastien zu tun. Mal kommt der Kaiser aus dem Hause China, mal aus den USA und dann wieder aus Indien - je nach Koalitionslage. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Seite die Führung für sich beansprucht. Vermutlich wird das China sein. Es ist größer, wächst schneller und hat Kaisererfahrung. Die USA dagegen werden reichspolitisch in die zweite Reihe gedrängt. Dort sorgen sie für die Legitimität des Gebildes. Denn sie verfügen über gigantische Soft-Power-Reserven. Anzapfen können sie zum Beispiel den »American Dream«, Hollywood, die Popkultur und Englisch als neues Latein, das dem Internet beigegeben wurde. Vor allem aber beherrschen sie eine Sphäre, die die Glaubenssubstanz der Postmoderne ausmacht: Der Konsum ist die Kirche der neuen Welt. Und niemand ist so konsumfromm wie Amerika. Der US-Präsident könnte der neue Papst werden. Vielleicht wird auch der Papst der neue Papst - oder Elon Musk. In jedem Fall haben wir es mit einer Zwei-Schwerter-Lehre zu tun, Kaiser und Papst ringen um Einfluss - bis die Künstliche Intelligenz beider Aufgaben übernimmt und sich wie Napoleon selbst zum Kaiser krönt. Und das ist dann die technologische Singularität.

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