Postkapitalistisches Märchen

Yanis Varoufakis schreibt ein als Roman verkleidetes Sachbuch über die großen Krisen unserer Zeit

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Sozialistische Utopien in Romanform haben im spätkapitalistischen Hier und Jetzt nicht gerade Hochkonjunktur. Nichtsdestotrotz legt der ehemalige griechische Finanzminister der Syriza-Partei Yanis Varoufakis mit »Ein anderes Jetzt« einen Science-Fiction-Roman vor, der von einer Parallelwelt erzählt, in der 2008 im Zuge der Finanzkrise der angeschlagene Kapitalismus nicht durch gigantische Hilfspakete gerettet, sondern mithilfe verschiedener Grassroots-Bewegungen erfolgreich bekämpft, überwunden und sogar abgewickelt wurde. Erzählt wird das aus Sicht von einem linken Technikfreak, einer materialistischen Feministin und einer ehemaligen Bankerin, die bei Lehmann Brothers arbeitete.

Der Techniker Costas entwickelt Mitte der 2020er Jahre eine Maschine, die ein Portal in eine andere Welt öffnet. Dem altlinken Costas, der (wie Yanis Varoufakis) aus Griechenland stammt und in England studierte, wo er in den 1980er Jahren fleißig gegen Margaret Thatcher und den Neoliberalismus kämpfte, gelingt es, mit seinem Alter Ego in diesem Paralleluniversum Kontakt aufzunehmen. Er staunt nicht schlecht, als er erfährt, dass die große Finanzkrise von 2008 dort vor allem viel Protestpotenzial wachrief und sowohl Privatbanken als auch Aktienmärkte wenige Jahre später einfach abgeschafft wurden.

Costas trifft sich mit seiner ehemaligen Genossin und Freundin Iris und deren jüngerer Geliebten, einer Bankerin namens Eva. Aus den Perspektiven dieser drei Figuren, die mit ihren parallelweltlichen Ichs (namens Costis, Siris und Eve) unterschiedliche Aspekte des Titel gebenden nderen Jetzt erörtern, wird die Geschichte der emanzipatorischen Umbruchphase nach 2008 und die basisdemokratische postkapitalistische Gesellschaft in der Welt jenseits des Portals detailliert aufgeschlüsselt.

Aus den OC-Rebellen, benannt nach »Ossify Capitalism«, die den Kapitalismus verknöchern ließen, den Crowdshortern, die zu massenhaften Zahlungsstreiks aufriefen und den Bladerunnern, die Konsumstreiks organisierten, entsteht im anderen Jetzt der Technosyndikalismus als breite, globale Bewegung, die eine erfolgreiche Kampagne nach der anderen fährt und das Zeitalter des Korposyndikalismus einläutet. Mithilfe zahlreicher basisdemokratischer Instrumente, die vom Arbeitsplatz bis zum Währungssystem alles regeln, wird diese Utopie Wirklichkeit.

Die wie auf dem grünen Reisbrett entworfene Bewegung von unten funktioniert dabei etwas zu sehr nach dem Prinzip »Ich wünsch mir was.« So schön das alles klingt und bis ins Detail ausgemalt wird, so blutarm kommt das manchmal bei der Lektüre rüber. »Ein anderes Jetzt« liest sich über weite Strecken wie ein trockenes und didaktisches Sachbuch und weniger wie ein belletristisches Werk.

Dabei steht Yanis Varoufakis’ Roman durchaus in der Tradition sozialistischer Utopien, die im späten 19. Jahrhundert ihre Hochzeit hatten, als dieses Genre boomte. Die bekanntesten Titel jener Zeit sind Edward Bellamys Yankee-sozialistischer »Rückblick aus dem Jahr 2000 auf das Jahr 1887« (1887) und William Morris libertär-sozialistischer Klassiker »Kunde von Nirgendwo« (1890). Auch diese Bücher wirken stellenweise etwas bemüht, in der Abarbeitung politischer, ökonomischer und kultureller Ideen und Vorstellungen, die zu einem Utopie-Korpus zusammengeschnürt werden. Am spannendsten wird Yanis Varoufakis’ postkapitalistisches Märchen, wenn er die unmittelbare Zukunft kurz nach der Corona-Pandemie in Szene setzt.

Denn »Ein anderes Jetzt« ist ebenso ein Geschichtsbuch über die politischen Kämpfe der Linken im 20. Und 21. Jahrhundert als auch ein aktueller Kommentar zur Zeit, der eine direkte Linie von der Finanzkrise 2008 zur Corona-Pandemie 2020 zieht und die von der politischen Klasse gerne so hoch gelobten Rettungsmaßnahmen, die vor allem Großkonzernen zugutekommen, einer strengen Kritik unterzieht.

Wobei in dieser anderen Realität keineswegs alles konfliktfrei abläuft. Märkte gibt es nach wie vor, mitunter wirkt dieses System sogar noch leistungsorientierter als unser Hier und Jetzt. Und in Sachen Geschlechterrollen ändert sich mit dem Verschwinden der Aktienmärkte erst mal nichts. Weshalb in dem Buch auch gleich noch eine feministische Kritik am postkapitalistischen Paralleluniversum formuliert wird, wobei die dann doch etwas eindimensional wirkt. »Berge bewegen sich, das Bankwesen wird ausgelöscht, sogar der Kapitalismus stirbt«, schreibt Siris, »aber das Patriarchat lebt wie eine unverwüstliche Kakerlake fort. Der einzige Unterschied ist, dass es sich jetzt unter einer noch dickeren Schicht politischer Korrektheit verbirgt.«

Als unterhaltsame Science-Fiction-Lektüre taugt Yanis Varoufakis’ Handbuch einer möglichen anderen ökonomischen Entwicklung nur bedingt. Lesenswert ist es trotzdem, auch deshalb, weil es sowieso viel zu wenige Utopien gibt. Und die können als Diskussionsbeiträge Debatten anstoßen.

Yanis Varoufakis: »Ein anderes Jetzt«, Verlag Antje Kunstmann, 256 S., geb., 24 €.

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