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Was passiert, wenn man »keinen Schneid« mehr hat?
Mit »Crossroads« zeigt Jonathan Franzen einmal mehr, wie gut die alten Leo-Tolstoi-Techniken funktionieren, auch in den Zeiten der umkämpften Identitätspolitik
Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise». Der erste Satz aus «Anna Karenina» von Leo Tolstoi hätte auch zu Beginn von Jonathan Franzens neuem Roman «Crossroads» stehen können.
Wie kein anderer zeitgenössischer Autor steht der US-Amerikaner in der Tradition der russischen Realisten. Die Familie Oblonskij aus «Anna Karenina» heißt in Franzens in den 1970er Jahren spielenden Roman Hildebrandt. Der Vater, Russ Hildebrandt, ist Ende Vierzig, hat aber als Geistlicher zu seinem Leidwesen immer noch keine eigene Gemeinde.
Schlecht bezahlt predigt er als zweiter Pastor in der First Reformed Church in dem fiktiven Chicagoer Vorort New Prospect. Ursprünglich aus einer streng mennonitischen Familie stammend, verließ er als junger Mann die Glaubensgemeinschaft seiner Vorfahren, weil sein Vater den Kontakt zu seinem Großvater abgebrochen hatte. Grund dafür war eine Witwe gewesen, mit der der Großvater nach dem Tod seiner Ehefrau unverheiratet zusammenlebte.
Gegen dieses fundamentalistische Christentum übt sich die First Reformed Church von New Prospect in Nachsicht als besondere Form protestantischer Tugend. Ausdruck einer solchen Haltung ist die Jugendgruppe «Crossroads», in der - allerdings von Russ Hildebrandt bedauert - der gruppentherapeutische Aspekt eine große, der christliche dagegen so gut wie keine Rolle spielt. Nicht Jesus, sondern die Gefühle der pubertierenden Jugendlichen stehen im Zentrum der beliebten Gruppenabende. Aber es ist nicht nur diese Seite von «Crossroads», die Pastor Hildebrandt stört. Auch der neue Leiter der Jugendgruppe, ein junger Theologiestudent, missfällt ihm. Er hat nicht nur die von Hildebrandt gegründete Gruppe zu ungeahnter Popularität geführt, sondern ihn im Grunde verraten, weil er schwieg, als die Jugendlichen ihn bei der jährlichen Freiwilligenfahrt in ein Navajo-Reservat als Betreuer ablehnten. Am Boden zerstört vermutet Hildebrandt, dass er einfach keinen «Schneid» mehr hat, wie Bettina Abarbanell, die den Roman auch sonst wunderbar übersetzt hat, den Begriff aus Hildebrandts Jugend in ein entsprechend altertümliches Deutsch übersetzt.
Russ Hildebrandt ist kein sympathischer Mensch; aber Jonathan Franzen gelingt es, ihn so zu schildern, dass der Leser Mitgefühl für ihn entwickelt. Er erzählt von seinen Schwächen und Widersprüchen so, dass man wissen will, wie er mit all seinen Problemen fertig wird. Das gilt auch für die anderen Figuren des Romans, etwa seine Frau Marion. Sie kommt aus einer katholischen Familie und hatte den protestantischen Glauben ihres Mannes angenommen. Russ weiß, dass sie in der Vergangenheit psychische Probleme hatte, aber er weiß nicht alles. Er weiß auch nichts von ihren dunklen sexuellen Erfahrungen.
Die Ehe der beiden ist zu Beginn des Romans auf einem Tiefpunkt. Dass Russ sich in eine junge Witwe aus der Gemeinde verliebt und ihr zum Gespött aller nachstellt, verschlimmert die Lage nur. Man muss lange nachdenken, bis einem ein Autor einfällt, der sich wie Franzen so gut in ganz unterschiedliche Figuren hineinversetzen kann. Zum Beispiel in Clem, den ältesten Sohn der Hildebrandts, der bereits die High School verlassen hat und aufs College geht. Oder in dessen Schwester Becky, die ein enges Verhältnis zu ihrem älteren Bruder hat. Sie geht noch zur Schule und ist zu Beginn unglücklich in den Gitarristen einer lokalen Band verliebt. Perry, der jünger ist als Becky, ist das intelligenteste der Hildebrandt-Geschwister, aber er hat ein Drogenproblem. Und er behandelt Judson, den jüngsten Bruder, als seinen Sklaven. Selbst die kleinsten Nebenfiguren, wie Beckys Konkurrentin Laura, die nur ein paarmal in dem 800-Seiten-Epos auftaucht, sind von Franzen mit ein paar Sätzen pointiert gezeichnet.
Die sich im Lauf der Geschichte langsam entfaltende Figurenpsychologie erscheint dabei niemals als aufgesetzt. Selbst da, wo die Zusammenhänge simpel wirken, beispielsweise im Verhältnis des Pazifisten Russ Hildebrandt zu seinem Sohn Clem, der aus Protest gegen seinen Vater in den Vietnamkrieg ziehen will, sind sie plausibel.
Man könnte nach der Lektüre meinen, es wäre erzählerisch seit den letzten 140 Jahren nichts passiert. Und doch wirkt der an den russischen Realisten des 19. Jahrhunderts orientierte Roman erfrischend, weil die Kunst, sich in jemand anderen hineinzuversetzen, der nicht mehr oder weniger an den Autoren oder die Autorin erinnert, in Zeiten des Narcissistic-Turns und der Identitätspolitik, unpopulär geworden. Wer, außer Jonathan Franzen, könnte das so gut - wie Tolstoi über eine durchschnittliche Familie derartig fesselnd und interessant zu schreiben?
Jonathan Franzen: Crossroads. A.d. amerik. Engl. v. Bettina Abarbanell. Rowohlt, 832 S., geb., 28 €.
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