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Zeit der relativen Geborgenheit
Der Film »Kabul Kinderheim« widmet sich der der sowjetischen Besatzung in Afghanistan. Eine kurze Phase der Widersprüche.
Welchen Stellenwert das Kino als Sehnsuchtsort einmal hatte, lässt sich an dem Preis ablesen, den der 15-jährige Qodratullah für ein Ticket auf dem Kabuler Schwarzmarkt verlangt: 150 Rupien anstelle des regulären Preises von 10 Rupien! Und doch wird er angesichts der großen Nachfrage die Karten reißend los und bestreitet damit seinen Lebensunterhalt als Waise ohne Familie und Obdach auf den Straßen der Hauptstadt. Selbst verbringt er freilich auch jede freie Minute im Dunkel des Kinos und träumt sich hinweg aus der tristen Wirklichkeit.
Wir schreiben das Jahr 1989, noch stehen die sowjetischen Truppen im Land, es herrscht Krieg, jedoch mehren sich die Auflösungserscheinungen. In Moskau regiert seit vier Jahren Gorbatschow, der nurmehr nach einer gesichtswahrenden Lösung sucht, den ungeliebten Konflikt endlich zu beenden und die Soldaten nach Hause zu holen. Die Hauptstadt Kabul ist fest in Regierungshand; es gibt so etwas wie eine staatliche Ordnung und Behörden, die sie durchsetzen. Von diesen wird Qodrat eines Tages erwischt und in ein Kinderheim verfrachtet, was ganz nach sowjetischen Prinzipien arbeitet.
Im Kosmos dieses Heims beginnt der jugendliche Delinquent, zu einer »sozialistischen Persönlichkeit« heranzureifen, findet Freunde, lernt Russisch, trägt mit Stolz sein rotes Halstuch. Er ist zum ersten Mal verliebt, und verliert sich in vom Kino geprägten Tagträumen, die Bollywood allerdings näher sind als dem sozialistischen Realismus. Sogar in ein Pionierlager im leuchtenden Vorbild Sowjetunion darf er eines Tages reisen, was zum prägenden Erlebnis wird. Bei alldem ist das Waisenhaus keineswegs eine Insel der Seligen, die gesellschaftlichen Bruchlinien verlaufen quer durch das Heim und viele der Zöglinge tragen ihre persönlichen Leidensgeschichten mit sich.
Spätestens als der Direktor die einsetzende Unruhe auf den Fluren in einer letzten Ansprache mit den Worten begründet: »Genosse Nadschibullah ist nicht mehr der Präsident«, und die Kinder auffordert, alle Dinge, die an die Sowjetunion erinnerten, zu verstecken, ist die Zeit der relativen Geborgenheit vorbei. Mit dem Einmarsch der Mudschahedin in die Hauptstadt hält der Krieg Einzug in Qodrats Leben.
Die zehnjährige Besetzung des Landes, die 1979 mit der Rettung des wankenden quasi-stalinistischen Terrorregimes begann, ist gewiss eines der unrühmlichsten Kapitel der Geschichte der Sowjetunion. Etwa eine Million afghanische Opfer forderte der asymmetrische Krieg der Besatzer gegen die islamistischen Mudschahedin. Zweifellos war das sowjetische Interregnum aber auch die Zeit einer Modernisierung des Landes. In Kabul herrschte weitgehend Normalität, der Krieg fand vor allem auf dem Land, in den Provinzen statt. Die Sowjetunion unterstützte die Regierung nicht nur mit Truppen und Waffen, sondern auch mit Investitionen, die das Leben zumindest in den Städten merklich verbesserten. Kabul sah allmählich einer sozialistischen Hauptstadt immer ähnlicher und Frauen hatten annähernd die gleichen Rechte wie Männer. Eine leichte Nostalgie durchweht denn auch den Film, unterstützt durch die warmen Farben, in die das Leben im Kinderheim getaucht ist. Dahinter steckt mitnichten die Absicht, diese Zeit zu verklären. Aber vor allem in der Retrospektive, vor dem Hintergrund des mörderischen innerafghanischen Bruderkrieges nach Abzug der Sowjettruppen, der Kabul in Schutt und Asche legte, das Land an den Rand des Abgrunds brachte und schließlich der Herrschaft der Taliban den Weg ebnete, erscheint die kurze Phase des afghanischen Sozialismus sowjetischer Prägung als vergleichsweise idyllisches Intermezzo und etwas Wehmut durchaus angebracht.
Der Film beruht auf den unveröffentlichten Tagebüchern des afghanischen Schauspielers Anwar Hashimi. »Kinderheim Kabul« ist der zweite Teil einer auf fünf Filme angelegten Reihe. Regie führte wie schon beim ersten Teil »Wolf and Sheep« (2016) Shahrbanoo Sadat. Die 31-Jährige gilt als die erste afghanische Spielfilmregisseurin überhaupt. Sie ist ein typisches Beispiel dafür, wie der Westen gerne ganz Afghanistan gehabt hätte, kosmopolitisch, gebildet, emanzipiert.
Leider wollte ein Großteil ihrer Landsleute ihr auf diesem Kurs nicht folgen, das Ergebnis ist bekannt. Vor kurzem erst konnte die Regisseurin mithilfe ihrer europäischen Freunde aus Kabul fliehen, wo sie gerade am dritten Teil ihrer Pentalogie arbeitete, und hält sich seitdem in Deutschland auf. Zumindest in Afghanistan dürfte sie für unabsehbare Zeit kaum mehr arbeiten können. Das historische Sujet von »Kinderheim Kabul« konnte sie jedoch auch nur im Ausland realisieren, denn authentische Schauplätze des »sowjetischen« Afghanistan dürften nach der Talibanherrschaft und zwanzig Jahren Krieg kaum mehr zu finden gewesen sein. Deshalb wurde zu großen Teilen im benachbarten Tadschikistan gedreht, wo es noch genügend (bauliche) Überbleibsel aus der Sowjetära gibt.
Es ist denn auch eine Stärke des Films, dass er seine Zeit absolut glaubwürdig wieder auferstehen lässt und Shahrbanoo Sadat bemerkenswert stilsicher agiert, obwohl sie selbst erst ein Jahr nach Abzug der Sowjettruppen geboren wurde. Die Authentizität des Geschehens impliziert freilich, dass es keinen glücklichen Ausgang des Geschehens geben kann. Es ist Ironie und Tragik zugleich, dass sich das bedrückende Ende des Films in Afghanistan derzeit praktisch wiederholt.
»Kabul Kinderheim«: Dänemark, Deutschland, Frankreich, Afghanistan u.a. 2019, Regie: Shahrbanoo Sadat, 90 Minuten, Start: 4.11.
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