Banalisiere die Dinge

Die Phrasen, das Lebensgefühl, der urbane Alltag: Bei Uli Becker ist alles da, nur seine Bücher sind leider vergriffen

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.

Christian Schultz-Gerstein hatte wieder mal recht: »Falls für die Qualität von Literatur auch dies ein Kriterium ist, daß man mit der Lektüre eines Buches nicht mehr aufhören kann, dann ist Uli Becker ein vorzüglicher Schriftsteller. Und das, obwohl er bisher ›nur‹ Gedichte geschrieben hat, Gedichte, deren Inhalte obendrein von einer Alltäglichkeit sind, die traditionelles Literaturverständnis gern aus dem Musentempel verbannt sähe.«

Schade, dass ich zu jung war, als ihn die Edition Nautilus 1978 mit seinem lyrischen Erstling »Meine Fresse!« auf Tour schickte, »Deutschland im Handstreich« zu nehmen. Mit Lyrik! Das ging damals noch oder gerade wieder, jedenfalls mit Beckers riffrockenden, shoutenden, melancholisch-leise summenden, mit der Sprache spielenden Gedichten. Der ziemlich dilettantisch zusammengeschusterte, sehr untergründige Band der Nautilus-Edition war irgendwann vergriffen, und wir Zuspätgeborenen mussten Vorlieb nehmen mit der ziemlich überarbeiteten, verbesserten Haffmans-Neuauflage von 1990.

Die hat längst nicht diese anarchische Aura, enthält dafür aber eine schöne »Editorische Notiz«. Fast auch ein Gedicht: »Passiert sind mir diese Gedichte Mitte der 70er Jahre, ›irgendwo ganz spontan‹, mit den Stones auf dem Plattenteller und dem Handbuch der Lebenskunst unterm Kopfkissen; Agitpop-Gedichte, die ausgingen auf eine Einheizfront von geballter Faust und dito Zunge-in-der-Backe, auf Bewußtseinserheiterung in finsteren Zeiten: ›Meine Fresse!‹ ist herausgekommen in jenem Herbst 1977, als Selbstmord plötzlich ebenso ›machbar‹ war wie der Schulterschluß zwischen Wahn und Wirklichkeit und dieses sprichwörtlich kalte Land einen einsamen Höhepunkt erlebte ... kalter Bauer!«

Seit 1979 lebt Becker in Westberlin. Seine Lyrik ist »Literatur für Leser«. So hat Volker Hage mal eine Anthologie mit Gedichten aus den 70er Jahren überschrieben. Becker aber findet mit keinem einzigen Wort Erwähnung - dabei hätte Hage, um auf ihn zu kommen, nicht einmal über den Tellerrand des »Zeit«- resp. »Spiegel«-Feuilletons hinausblicken müssen. Man braucht zur Becker-Lektüre keinen Handapparat von Wörterbüchern und Enzyklopädien, es ist selten wirkliche Dechiffrierarbeit nötig. Die Poesie dieser Verse entsteht nicht aus ihrer Verrätselung (auch schon mal, aber das macht sie nicht aus); es ist die reine, nicht selten krude Wirklichkeit, die ihm plötzlich ihre epiphanischen Qualitäten preisgibt, weil er lange und genau genug hingesehen und die passgenauen Worte gefunden hat.

Becker schreibt Gelegenheitsgedichte im besten Sinne. Texte also, die den Augenblick einfrieren, die aber auch jene günstigen und ungünstigen Gelegenheiten, in denen sie entstanden sind, spiegeln - also die historische, politische und vor allem verbale Wirklichkeit mitstenografieren. Deshalb sind gerade seine frühen Gedichtbände »Meine Fresse«, »Der letzte Schrei« (1980), »Daß ich nicht lache« (1982) und »Das blaue Wunder« (1985) auch eine Fundgrube für Zeit- und Sprachgeschichtler. Die Phrasen, Slogans und Sprüche, das Lebensgefühl, die Dinge, der urbane Alltag, alles da. Und im Alltäglichen spiegelt sich allemal das Politische.

Wer sich nicht vorstellen kann, wie wohl linke Desillusionierung im »deutschen Herbst« im RAF-Jahr 1977 ausgesehen haben mag, bekommt nicht nur im langen Stammheim-Gedicht »Rübe ab!« einiges Anschauungsmaterial geboten: »In Berlin fangen die Studenten wieder an / Zu wetten, wie viele von ihnen / Sich in einen Mini reinzwängen lassen / Die Presse kriegt vom Sponsor ’nen Freßkorb / Und schreibt: ›Diese jungen Menschen / Sind der fleischgewordene Beweis / Wie radikal die Tendenz sich gewendet hat! / Weg vom allzu weichen 2 CV / Zurück zum spurtreuen Austin / Mit seiner bewährten harten Federung‹ / Als ich das per Zufall lese / Muß ich lachen, kurz und trocken / Und gefragt, wie ich das finde / Sage ich: ›Zum Schießen!‹ / Wie immer schlagfertig, sogar viel zu fertig / Um es tatsächlich zu tun«.

Seine Poetik des Profanen hat Becker den Beats aus den USA und verwandten Autoren abgeschaut: Alan Ginsberg, Frank O’Hara, William Carlos Williams, Charles Bukowski und ihren westdeutschen Brüdern im Geiste Rolf Dieter Brinkmann und Jörg Fauser. Ebenso wichtig, als Stichwortgeber und Gewährsmänner, sind ihm allerdings die Dadaisten. Auch sie eint das Interesse am Banalen und Trivialen, am Einerlei und Allerlei der Alltagssprache - den Medienmüll immer eingeschlossen -, und bei ihnen hat er wohl auch gelernt, was sich mit dem Wortspiel so alles Witziges anrichten lässt. An erster Stelle steht bei ihm Walter Serner, von dem auch Beckers Konfirmationsspruch stammt (dem Gedicht »Die Wahrheit über Picassos Periode« vorangestellt): »Jahrhunderte hindurch wurden in alle Dinge Tiefen hineingeheimnist, die sie niemals hatten. Das hat sehr viel Unheil angerichtet. Banalisiere die Dinge und du wirst Erfolg ernten und Chancen säen.«

Die Wahrheit steckt im Detail. Zum Beispiel in einer Kontaktanzeige: »Spritziger Vollbart, 36, will Zweisamkeit / mit frisch rasierter Asiatin, die ihm mit / Geduld und Spucke die Nudel weichkocht.« Und doch erkennt man hinter dieser Komik und forcierten Laxitüde schon sehr bald den tiefen Melancholiker, der alle seine Verse mit der eigenen überlaufenden schwarzen Galle grundiert: »Die Geschichte dieses Sommers / Findet eben nicht bloß zwischen den Laken statt / Das sind auch die gespenstischen Containertrecks / Die im Schutz der Dunkelheit / Endlos durch die laue Nacht rattern / Und klammheimlich den Atommüll / In die stillgelegten Salzbergwerke schaffen / Wenn die Leute entweder schlafen / Oder besoffen sind / Oder Liebe machen wie wir / Und dabei was anderes im Kopf haben / Als so ’ne waschechte Apokalypse / Mit radioaktiven Mutanten und allen Schikanen / Und dazu gehören auch, um ein paar Ecken / Daß wir als Jungs immer winkend / Auf der Autobahnbrücke gestanden / Und den Wagen hintergesehen haben / Wir warteten auf große Mercedesse / Und schrieben bestenfalls mal ’ne seltene Nummer auf / Dann fuhren wir mit dem klapprigen Fahrrad / Nach Hause und vergaßen beim Eis zu zehn / Die große Sehnsucht«.

Die latente Katastrophenstimmung der Zeit, die letzten, oft genug schon sentimentalisch verbrämten Zuckungen eines linken Engagements, die Larmoyanz der Intelligenzija - Becker stenografiert das mit. Und er fängt auch diesen unspezifischen 80er-Jahre-Blues ein. Die nachvollziehbare Trauer derjenigen, die »post«, zu spät, sind - bei Uli Becker hat sie eine adäquate lyrische Form gefunden: »Leute, / die Abend für Abend durch die Kneipen / irrlichtern wie die Seelen der Toten, / die in ungeweihter Erde begraben liegen: / Wie lange schon den offenen Horizont / nicht mehr gesehn, ein Spielball der Wellen / treiben sie im Häusermeer, festgekrallt / an einer Planke, gerade breit genug / um ein Bier darauf abzustellen«.

Dass seit Jahren, Jahrzehnten kein richtiger Gedichtband mehr erschienen ist, von einem Haiku-Bändchen und Renshi-Kollaborationen mal abgesehen, ist ein verdammtes Ärgernis. Der Literaturbetrieb und der Dichter hatten sich offenbar beide gründlich satt. Seine Bücher sind vergriffen. Wird Zeit, dass ein Verlag den Mann aus der Reserve lockt, ihm endlich sein Opus magnum abverlangt.

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