Chile steht vor einer Zäsur

Martin Ling über die ernüchternden Wahlergebnisse aus Chile

Am 19. Dezember werden die chilenischen Wähler*innen Geschichte schreiben: Sie haben die Wahl zwischen dem Linksreformer Gabriel Boric und dem ultrarechten José Antonio Kast. Sie haben die Wahl, der Pinochet-Diktatur eine endgültige Absage zu erteilen, oder die Restauration einzuleiten. Denn für nichts anderes steht José Antonio Kast. Seine Aussage nach den ersten Hochrechnungen war deutlich: »Es muss ganz klar gesagt werden - Gabriel Boric und die Kommunistische Partei verteidigen den Terrorismus, sie haben leider gesagt, dass sie Instabilität für unser Land wollen.« Mehr Kampfansage geht nicht.

Chiles Linke bis hin zur linken Mitte sind nun gefordert. Sie müssen für die Stichwahl mobilisieren, was das Zeug hält. Dann hat Boric gute Chancen, Chiles nächster Präsident zu werden. Aber das deutliche Erstarken der Ultrarechten zeigt, dass der Aufbruch der Straßenrevolte von 2019 nicht als Selbstläufer in eine neue Verfassung mündet, die das Grundgesetz der Pinochet-Diktatur von 1980 ablöst und Chile neu gründet. So wird es Boric mit den Mehrheitsverhältnissen in Senat und Parlament schwer haben, eine progressive Sozialpolitik durchzusetzen, wie sie der neoliberale Musterschüler mehr als nötig hat.

Boric hat im Wahlkampf eine mutige Ansage gemacht: »Chile war die Wiege des Neoliberalismus, es wird auch sein Grab sein, aber ein Grab, auf dem die Blumen blühen.« Seit dem Aufbruch am 18. Oktober 2019 sah es in der Tat so aus, das Momentum war eindeutig auf der Straße, auf der Seite der linken Bewegung. Die Wahlergebnisse von Sonntag sind ein harter Schlag und ein deutlicher Rückschlag. Aber abgerechnet wird erst am 19. Dezember. Noch haben die Chilen*innen die Wahl, die Geschichte wieder gerade zu rücken.

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