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Wer auf der Straße lebt, zahlt Strafe

Die Ampel-Koalition könnte hier etwas lernen: Die Münchner Ausstellung «Who’s next?» über Obdachlosigkeit und Architektur

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Weltweit wird die Zahl der Obdachlosen auf insgesamt 100 Millionen, die der Wohnungslosen auf 1,6 Milliarden Menschen geschätzt. Laut den Angaben des Forschungsprojekts «HOME_EU: Homelessness as Unfairness» gibt es in Europa ungefähr drei Millionen wohnungslose Menschen. 410 000 schlafen jede Nacht auf den Straßen europäischer Städte. Die regionale und globale Wohnungsnot beruht auf den Interessen privater Investoren und Profitstreben, befördert durch Spekulation und Kommerz, typischen Charakteristika des ökonomischen Systems.

Das Europäische Parlament hat im November 2020 einen Beschluss gefasst, der die Mitgliedstaaten zu Maßnahmen zur Abschaffung der Obdachlosigkeit bis 2030 verpflichtet. Finnland geht seit 2016 mit gutem Beispiel voran und ist bislang das einzige Land in der Europäischen Union, in dem keine Menschen mehr im öffentlichen Raum nächtigen müssen.

In Deutschland lag 2008 die Zahl der Wohnungslosen bei rund 227 000 - seither ist sie rasant angestiegen. So verfügten 2016 860 000 Menschen über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Die meisten von ihnen leben in Übergangswohnheimen, Notunterkünften und Frauenhäusern oder kommen temporär bei Freunden unter. Mehr als 50 000 Menschen schlafen als Obdachlose ohne Dach über dem Kopf auf der Straße.

Doch alle Daten und Erhebungen beruhen auf Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, in der Kommunen und freie Träger der Wohnungslosenhilfe organisiert sind. Auf Bundesebene fehlen offizielle Zahlen, ganz nach dem Motto: Wenn wir schon nicht wissen, wie hoch genau die Impfquote in der Coronapandemie ist, brauchen wir auch keine gesicherten Obdachlosenzahlen.

Die Winterwelle der Corona-Pandemie, deren Abwendung die Bundesregierung trotz Warnungen aus der Wissenschaft erneut verschlafen hat, wird erneut Obdachlose besonders hart treffen. Die Pandemie hat die Situation dieser bedürftigen Menschen verschärft, sie zählen zu den besonders gefährdeten Personengruppen. Als etliche europäische Länder im Frühjahr 2020 begannen, als Reaktion auf die Coronapandemie Lockdowns umzusetzen, wurden insbesondere die Menschen mit einer Geldbuße belegt, die keine offizielle Genehmigung für ihren Aufenthalt im Freien vorlegen konnten: «Als Folge dieser Maßnahmen wurden obdachlose Menschen für ihre Wohnverhältnisse bestraft - also dafür, dass sie auf der Straße leben und schlafen müssen», schreibt Samia Henni in ihrem Essay «Obdachlosigkeit verboten: Das Lockdown-Gesetz als Pharmakon», abgedruckt im exzellenten Katalog zur Ausstellung «Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt», die gegenwärtig im Architekturmuseum München gezeigt wird. Es wird der Frage nachgegangen, wie Architektur mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten kann, um Wege zu erkunden, denjenigen ein Zuhause zu geben, die keines haben.

Die Ausstellung, die in ihrer Präsentation reichlich Lesestoff bietet, ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Bereich werden einzelne Städte betrachtet oder, wie es im Katalog heißt, «große, bedeutende Wirtschaftszentren in Ländern, die allesamt einen Grad von urbanem Wohlstand erreicht haben, der jeweils mit extremer Armut kollidiert». Diese Städte beziehungsweise Zentren sind New York City, Tokio, Mumbai, Shanghai, San Francisco, São Paulo, Moskau und Los Angeles. Westeuropäische Städte werden nicht berücksichtigt, weil - so die Ausstellungsmacher - hier im Unterschied zu anderen Teilen der Welt noch ein Sozialhilfesystem existiere, das sich allerdings als schrumpfend und mangelhaft erweise.

2020 schliefen In New York City insgesamt knapp 123 000 obdachlose Erwachsene in den städtischen Notunterkünften, darunter mehr als 39 300 obdachlose Kinder. Im Februar 2021 beherbergten die Notunterkünfte 40 Prozent mehr New Yorker*innen und insgesamt 70 Prozent mehr schulpflichtige Kinder als zehn Jahre zuvor. Die Gründe sind uns aus deutschen Städten wohlbekannt: horrende Mieten, sinkende Löhne, ein signifikanter Abbau von Wohnungen mit Mietpreisbindung - New York City verlor zwischen 1994 und 2012 insgesamt 150 000 mietstabilisierte Wohnungen - sowie die fehlende Schaffung von neuem Wohnraum mit Mietendeckel.

Doch als die US-amerikanische «Hauptstadt der Obdachlosen gilt Los Angeles: 2020 lebten im Großraum L. A. knapp 67 000 Menschen auf der Straße. Innerhalb eines Jahrzehnts hat die Zahl der Obdachlosen um beinahe 50 Prozent zugenommen. Hier haben die von Immobilienunternehmen vorangetriebene Gentrifizierung und die jahrzehntelange institutionelle Vernachlässigung den Menschen keine andere Wahl gelassen, als ihr Lager auf der Straße aufzuschlagen.

Wohnraum ist wegen des unzureichenden Angebots und der hohen Arbeitslosigkeit (2021: 10,9 Prozent) unerschwinglich, gleichzeitig besteht ein struktureller und institutionalisierter Rassismus fort und zudem gibt es so gut wie keine städtischen Programme zur Bekämpfung von Armut. Maria Esnaola Cano schreibt in ihrem Katalogbeitrag: »Die Obdachlosen von L. A. sind die eklatanteste Verkörperung des systemischen Rassismus und der Segregationspolitik, die systemübergreifend in die Struktur der amerikanischen Gesellschaft eingebettet sind. Die Coronapandemie und der Klimawandel haben ein Übriges dazu beigetragen, dass sich die ohnehin schon katastrophale Situation noch verschlimmert hat.«

Im zweiten Teil der Ausstellung werden neunzehn vorbildliche Wohnprojekte für Menschen präsentiert, die von Wohnungslosigkeit betroffen waren. Vorgestellt werden etwa die »Star Apartments« in Los Angeles, ein Mischnutzungskomplex mit Räumen für medizinische Hilfsdienste, einer Ebene für Gemeinschaftsaktivitäten sowie auf vier Stockwerke verteilte 102 Wohneinheiten. Die Notwohnsiedlung Brothuuse im Norden von Zürich ist ein modularer Holzbau, der aus zwei Wohngebäuden, einem Gemeinschaftsgebäude, einem Innenhof sowie einem Garten besteht.

Der beeindruckende Backsteinbau »Holmes Road Studios« in Camden, London, ist ein Obdachlosenheim mit Beratungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für ehemals Dogen- oder Alkoholsüchtige, einem Gemeinschaftsgarten sowie einer kleinen Ambulanz. »PLACE/Ladywell« befindet sich ebenfalls in London und besteht aus stapelbaren Wohncontainern, die zu 77-Quadratmeter-Wohnungen mit je zwei Schlafzimmern kombiniert werden. Ein Eyecatcher ist die blau schimmernde skulpturale Fassade des Obdachlosenheims mit dem merkwürdigen Namen »Lebensraum o16« am Ostpark zu Frankfurt am Main. Die dortigen Wohneinheiten bieten mit einem Etagenbett, einem Spind und einem Kühlschrank allerdings nur das nötigste Mobiliar.

Die vorgestellten Projekte verweisen nicht nur darauf, dass Architektinnen und Architekten eine Vorstellung davon entwickeln können, wie und was sich in der Gesellschaft durch Gebäude und ihre Nutzungskonzepte ändern soll und kann, sondern auch, dass es bislang an derartigen Projekten mangelt. Unter einer Ampel-Regierung wird sich dies hierzulande nicht ändern. Oder ist etwa aus den Ampel-Sondierungsgruppen im Gentrifiz-Ambiente nach außen gedrungen, dass SPD, Grüne und FDP vorrangig das Problem Obdachlosigkeit angehen wollen?

Haben diese Parteien überhaupt vernommen, dass die Diakonie Sachsen Ende Oktober angesichts sinkender Temperaturen mehr Beistand für wohnungslose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen gefordert hat? Die Coronakrise habe deren Situation noch einmal extrem verschärft und gezeigt, dass man nicht nur punktuell, sondern auf allen politischen und behördlichen Ebenen den unbedingten Willen brauche, solche Notlagen zu beenden.

»Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt« im Architekturmuseum der Technischen Universität in der Pinakothek der Moderne, München. Bis 6. Februar. Der Katalog mit einem nützlichen Glossar erschien bei Archi Tangle und kostet 38 Euro.

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