Faschismus oder Reformen

Bei der Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile stehen die Errungenschaften des Aufbruchs auf dem Spiel

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.

Drei Soldaten stehen in Independencia, einer Gemeinde von Santiago, vor dem Fernseher. Sie sind für die Sicherheit während der Wahl verantwortlich, über den Bildschirm laufen die ersten Ergebnisse. Die Soldaten sind glücklich, einer schießt schnell ein Foto: der Rechtsextremist José Antonio Kast, 27,9 Prozent, führt die Stimmabgaben an; knapp dahinter der Linksreformer Gabriel Boric. Beide werden am 19. Dezember in einer Stichwahl gegeneinander antreten.

Die Kandidat*innen der zwei großen Mitte-links- und Mitte-rechts-Koalitionen, Yasna Provoste und Sebastián Sichel, sind abgeschlagen mit jeweils um die zwölf Prozent auf dem vierten und fünften Platz. Den dritten Platz hat Franco Parisi eingenommen, ein Kandidat, der in den USA lebt und nicht in Chile einreisen konnte, da er offene Rechtsverfahren hat. »Wut und Traurigkeit«, so beschreibt der Historiker Marcelo Sánchez dem »nd« seine Gefühle nach der Wahl. »Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass 1,3 Millionen Personen bereit sind, ihre Seele, die Toleranz, humanitäre Grundwerte an den Faschismus und Argumente der Sicherheit und Ordnung zu verkaufen.«

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Gut zwei Jahre nach der Oktoberrevolte hat sich das politische Feld neu geordnet. Die dominierenden Parteien der vergangenen 30 Jahre wurden deutlich abgestraft: Bei den Parlamentswahlen erreichte die Mitte-links-Koalition, die von 1990 bis 2010 durchgehend regiert hat, nur 17 Prozent der Stimmen. Auch die Regierungskoalition des amtierenden rechten Präsidenten Sebastián Piñera erreichte nur 24 Prozent.

Die linken Parteien haben es bisher nicht geschafft, eine große Mehrheit von ihren Ideen des sozialen Wandels zu überzeugen. »Zu elitär war ihr Diskurs«, meint Vicente Painel, ehemaliger Kandidat für den Regionalrat in der Region Araucanía, wo der rechtsextreme Kast 42 Prozent der Stimmen holte und die derzeit aufgrund des Konflikts zwischen militanten Mapuche und Forstunternehmern unter militärischer Kontrolle steht.

Kast hingegen verspricht Ordnung und sichert zu, dass nach zwei Jahren des Chaos, des politischen Konflikts, der Pandemie und der zunehmenden Kriminalität aufgeräumt wird. Er will den Staat verschlanken, soziale Errungenschaften abschaffen und all das privatisieren, was bislang noch in der Hand des Staates ist. Für linke Organisationen wäre es ein Friedhofsfrieden, da Kast offen vorschlägt, »linksextreme« Gruppierungen auf lateinamerikanischer Ebene zu verfolgen und klandestine Gefängnisse, ähnlich wie während der Militärdiktatur von 1973 bis 1990, aufzubauen.

»Wir waren zu zerstritten«, gibt die linke Gemeinderätin von Independencia Jennifer Pérez gegenüber »nd« zu. Auf Landesebene sind sechs Koalitionen, links der ehemaligen Concertación, für das Parlament angetreten. Nur drei von ihnen können überhaupt Parlamentarier*innen in den Kongress schicken. Auch auf Präsidentschaftsebene wurde Boric lange kritisiert. Sein teilweise widersprüchliches Verhalten als Parlamentarier und seine Entfernung zu sozialen Bewegungen machten ihn zu einem schlechten Kandidaten in den Augen vieler eher radikaler Linker.

Viele Radikale probierten seit eineinhalb Jahren, die Flamme der Revolte aufrechtzuerhalten. Mit regelmäßigen Barrikaden in den einzelnen Stadtvierteln und im Zentrum von Santiago, waren sie gleichzeitig die Projektionsfläche von Kast, um zu sagen, die Linke würde nur Chaos und Zerstörung bringen.

Ein Trostpflaster ist, dass viele Aktivist*innen, wie Fabiola Campillai - die durch einen Gasgranatenschuss der Polizei ihr Augenlicht verlor - den Sprung in die beiden Parlamentskammern geschafft haben. Doch es sind zu wenig, um im Parlament klare Mehrheiten zu schaffen. Das Chile der letzten 30 Jahre ist vorbei. Wohin die Reise geht, ist heute unklarer denn je. Nun geht es für viele linke Aktivist*innen in die heiße Phase. Boric rief gleich nach der Wahl dazu auf, die Anstrengungen für einen Wahlsieg am 19. Dezember zu erhöhen. Viele Linke, wie Pérez, werden dem Aufruf folgen. Für sie geht es um alles. Würde der rechtsextreme Kast gewinnen, wären alle Errungenschaften der vergangenen Jahre gefährdet. Die Verfassunggebende Versammlung, die derzeit mit einer linken Mehrheit eine neue Verfassung schreibt, würde durch den rechten Präsidenten blockiert werden. Ein erfolgreicher Abschluss des Projekts scheint unter ihm fast unmöglich.

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