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  • Graphic Novel „Der Duft der Kiefern“

Was geschah, wissen nur die Kiefern

Bianca Schaalburg gräbt in ihrem Graphic-Novel-Debüt in ihrer eigenen Familiengeschichte

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Da steht sie nun. Diese schwere, dunkle Art-déco-Garnitur aus Nussbaumholz.

Die Spiegelkonsole, das Nachttischchen und den großen Kleiderschrank haben Bianca Schaalburgs Großeltern 1933 zur Hochzeit bekommen. Viele Jahrzehnte später erbt sie die Möbel, als ihre Oma ins Pflegeheim kommt. Mit ihnen zieht ein Stück Familiengeschichte in die eigene Wohnung ein. Eine Geschichte, über die die Berliner Illustratorin wenig weiß. Zumindest, was ihren Großvater Heinrich und dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg betrifft.

Kurz nachdem ihre Mutter an Krebs gestorben ist, muss Bianca Schaalburg auch den Verlust ihrer Großmutter verkraften. Mit dieser Trauer beginnt ihr Graphic-Novel-Debüt »Der Duft der Kiefern«, in dem sie tief in die Vergangenheit taucht und versucht aufzudecken, worüber in ihrer Familie nicht geredet wurde. War Opa Heinrich ein »schlimmer Nazi« oder nur ein Mitläufer? Was hat er damals in Riga gemacht? Wie in vielen deutschen Familien sind das Fragen, die in der Erzählung der eigenen Geschichte ausgeklammert wurden. »Er hatte nie mit seiner Familie über die Kriegszeit gesprochen«, heißt es im Comic. Auch Bianca Schaalburgs Onkel, der ebenfalls Heinrich heißt, tappt im Dunkeln. Er schließt sich der Recherche seiner Nichte an, ebenso wie deren Sohn.

In ihrer Graphic Novel führt Bianca Schaalburg zu wichtigen Orten ihrer Familiengeschichte. Sie taucht in verschiedene Epochen ein, lässt in ihren vielschichtigen und abwechslungsreich gestalteten Panels Stimmungen, Architekturen, Moden und Frisuren der jeweiligen Zeit lebendig werden. Einer dieser Orte ist der Eisvogelweg 5. Fast vier Jahrzehnte hat die Familie dort, in der von Bruno Taut erbauten Waldsiedlung in Berlin-Zehlendorf, gewohnt. In ihrer Kindheit in den 70er Jahren, die Bianca Schaalburg in orangefarbenes Licht taucht, interessieren sie bei den Besuchen bei der Oma und der Uroma vor allem die Vögel in den Bäumen und der Duft der Kiefern, die ihre Zapfen in der Gegend verteilen.

In den 30er Jahren wuchsen ihre Mutter und deren drei Geschwister in dem Haus im Eisvogelweg auf, wie die Comic-Zeichnerin in bräunlich gefärbten Panels erzählt. »Als meine Mutter sechs Jahre alt war, kannte sie in ihrem Kinderleben nur den Krieg«, berichtet sie.

Die Autorin und Zeichnerin erzählt das Große im Kleinen, lässt die Leser*innen an privaten und scheinbar nebensächlichen Familiengeschichten teilhaben und ordnet diese in die politischen Entwicklungen der jeweiligen Epoche ein. Da trifft ihre Großmutter Else den von ihr geschätzten jüdischen Kinderarzt auf der Straße - und kann oder will nicht verstehen, dass dieser einige Wochen im Konzentrationslager verbracht hat. »Eine ganz besonders hübsche Gegend«, sagt sie, als er berichtet, dass er gerade aus Sachsenhausen kommt.

In Wort und Bild fängt Bianca Schaalburg Ignoranz und Schweigen ein. Phänomene, die bis heute präsent sind, wenn es um die Verflechtungen der eigenen Familienmitglieder in der Nazi-Zeit geht. Bianca Schaalburg aber gräbt. Sie erfährt: Ihr Großvater, ausgebildeter Zahntechniker, ist mit 21 Jahren in die NSDAP eingetreten, nahm mit seiner Infanteriedivision am Russland-Feldzug teil, wurde dann im Küstenschutz bei Riga eingesetzt. Was hat er dort gemacht? Sie hört etwas von Versorgungstransporten und Wohnungsauflösungen. Was hat es damit auf sich?

Die Autorin reist selbst nach Riga, zeichnet den Wald, in dem mehr als 40 000 Menschen ermordet wurden. Sie erzählt, mit welcher Systematik und Effizienz Jüdinnen und Juden an den Rand von Gruben geführt und dort erschossen wurden. »In drei bis sechs Stunden wurden auf diese Art hintereinander 200 bis 400 Menschen getötet.«

Was ihr Großvater damit zu tun hatte, was er wusste und was genau seine Aufgabe war, bleibt Bianca Schaalburg verborgen. Trotzdem findet sie einiges heraus - und füllt Leerstellen mit gezeichneten Überlegungen, was gewesen sein könnte.

Auch über die drei Jüdinnen und Juden, die vor ihrer Familie im Eisvogelweg 5 gewohnt hatten, macht sie sich Gedanken. Wer waren sie und welches Leben führten sie, bevor sie deportiert und ermordet wurden? An Clara Hipp, Carl Loewensohn und Margarete Silbermann erinnern heute Stolpersteine, die vor dem Haus verlegt wurden, in dem Bianca Schaalburgs Familie mehr als 40 Jahre gelebt hat. Konnten ihre Großeltern wegen des Parteiabzeichens des Großvaters dort einziehen?

Die Comic-Autorin kann nicht alle Fragen klären. Doch viel wichtiger ist der Prozess. Ihre akribische Recherche, ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Versuch, die historischen Tatsachen auf den Tisch zu bringen. Ihre Suche bringt sie auch auf andere Fährten, denen sie folgt und die zu erzählenswerten Begegnungen und Entdeckungen führen. Mit ihrer persönlichen, empathischen Erzählweise und ihren lebendigen Figuren eröffnet Bianca Schaalburg einen Zugang zu ihrer Familiengeschichte, den sie mit vielen historischen Fakten unterfüttert. Sie erzählt einfühlsam und witzig, wenn es um den Familienalltag geht, präzise und nüchtern, wenn die historischen Fakten im Mittelpunkt stehen.

Sehr wirkungsvoll sind dabei Momente, in denen die Autorin verschiedene Epochen einander gegenüberstellt und dabei Unterschiede wie die Parallelen sichtbar werden lässt. Während in Berlin die Kinder ihr Kinderleben leben und einen Ausflug zu Verwandten nach Tegel machen, wird der Vater weit weg zum Feldwebel befördert.

»Der Duft der Kiefern« ist eine Reise durch die Zeit und gleichzeitig ein gezeichnetes Porträt Berlins und seiner Bewohner*innen. Die visuell wie dramaturgisch abwechslungsreich, fantasievoll und spannend gestaltete Graphic Novel erzählt keine besonders außergewöhnliche Familiengeschichte, sondern eine sehr deutsche, sehr alltägliche Vergangenheit. Dass es trotzdem wichtig und lohnenswert ist, sich Fragen zu stellen, zu forschen und verschiedenen Spuren zu folgen, zeigt Bianca Schaalburg auf eindrucksvolle Weise in ihrer Graphic Novel - und kann so vielleicht auch dazu inspirieren, nach den Dingen zu fragen, über die in vielen Familien geschwiegen wird.

Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse. Avant-Verlag, 208 S., geb., 26 €.

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