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Vom Standpunkt der Befreiung
Was heißt und zu welchem Ende studieren Marxisten Universalgeschichte? Anmerkungen zu Stephan Krügers epochalem Werk »Weltmarkt und Weltwirtschaft«, das den Abschluss seiner sechsteiligen Reihe »Kritik der politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse« bildet
Als 2009 Jürgen Osterhammels »Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts« erschien, kam das einer Revolution gleich, einer kleinen zumindest. Denn mit diesem Meisterwerk - die deutschsprachige Geschichtsschreibung hat in den letzten hundert Jahren nur ganz wenige hervorgebracht - begann für die hiesige Öffentlichkeit die Globalgeschichte. Osterhammel stellte das 19. Jahrhundert nicht aus eurozentristischer Sicht dar, sondern erzählte tatsächlich Weltgeschichte, weit ausholend, um dann elegant zu verdichten. Letztes Jahr erschien das dickleibige Buch in der sechsten Ausgabe, es ist längst übersetzt worden, und Osterhammel ist seit 2013 Mitherausgeber der ganz unbescheidenen Reihe »Die Geschichte der Welt«. Sie wird, wenn nächstes Jahr der letzte Band erschienen sein wird, die kanonische Enzyklopädie der Globalgeschichte bilden.
Marxisten haben diese neue und in der akademischen Welt schließlich dominierende Schule in der Geschichtsschreibung schüchtern-freundlich begrüßt, weil sie als Strömung zu schwach waren, um selber ein Projekt von dieser Größenordnung anzustoßen. Globalgeschichte gibt vielen marxistischen Theoremen recht - der Kritik am Eurozentrismus (die im Marxismus seit der chinesischen Revolution virulent ist); der Kopplung von Weltmarkt und Weltgeschichte; der zwangsläufigen Herausbildung des Imperialismus und der ebenso zwangsläufigen Krise erst des britischen, jetzt des amerikanischen Imperialismus. Andererseits verzichtet sie auf jede modellhafte Strukturanalyse und gibt sich fröhlich positivistisch. Gerade weil die Globalgeschichte auf jede philosophische Spekulation, jeden Zentrismus - zum Beispiel Dominanz der Industriearbeiterklasse im weltweiten Prozess der Emanzipation -, jede Annahme einer Intentionalität des historischen Prozesses verzichtet, kann sie Werk auf Werk häufen.
Marxismus als Welttheorie
Wie könnte eine Globalgeschichte aus marxistischer Sicht aussehen und wozu wäre sie gut? Vor gar nicht so langer Zeit wäre diese Frage jedem gestandenen Marx-Adepten absurd vorgekommen: Der Marxismus behauptete das Privileg auf Weltgeschichte als Forschungsdisziplin, am stolzesten vielleicht durch die Gruppe Leipziger Revolutionshistoriker um Walter Markov und Manfred Kossok. Aber als akademische Schule und wirkmächtige politische Strömung ist der Marxismus untergegangen, seine Wiederaneignung führt heute notwendig über Bruchstücke, über halb ausgeführte Überlegungen und Geistesblitze, die Bloch wohl als unabgegoltene gekennzeichnet hätte.
Marx schreibt an Engels am 11. Januar 1860: »Nach meiner Ansicht ist das Größte, was jetzt in der Welt vorgeht, einerseits die amerikanische Sklavenbewegung, durch Browns Tod eröffnet, andrerseits die Sklavenbewegung in Russland. (...) Dies zusammen mit dem bevorstehenden downbreak in Zentraleuropa wird grandios werden. (…) Ich sehe eben aus der ›Tribune‹, dass in Missouri ein neuer Sklavenaufstand war, natürlich unterdrückt. Aber das Signal ist einmal gegeben. Wird die Sache by und by ernsthaft, was wird dann aus Manchester?« Sich auf den gescheiterten Sklavenaufstand von John Brown im Oktober 1859 in Virginia beziehend zeichnet Marx mit wenigen kräftigen Strichen ein Panorama der Weltrevolution, die sich von den Rändern des kapitalistischen (noch britisch dominierten) Empires her zu ihrem Zentrum - Manchester - vorfressen wird. Mit den Rändern sind nicht so sehr die geografischen gemeint, sondern die politischen und sozialen - der Ausgang der Revolution von Sklavenrebellionen. Marx war viel hellhöriger gegenüber globalen Bewegungen als eine postmodern-pseudoradikale Kritik - die in ihm nur den Eurozentristen, der er zweifellos auch war - zu sehen in der Lage ist.
Marxistische Globalgeschichte wäre dann - wieder! - sinnvoll, wenn sie im Hinblick auf eine Untersuchung revolutionärer Sprengmöglichkeiten vorgenommen würde. Wo im globalen Gefüge tut sich ein Riss auf, der dort, wo sich immer noch das meiste industrielle wie finanzielle Kapital ballt: in den Metropolen des globalen Nordens, zu einem veritablen Spalt, einem wirklichen Bruch führen könnte? Rebellieren die nordamerikanischen Sklaven und die russischen Bauern, wäre der Zufluss von Rohstoffen, der über »Manchester« als Industrie- wie Handelszentrum koordiniert wurde, blockiert, so das Kalkül von Marx. Damit wäre eine Krise im Herzen des Weltmarktdemiurgen vorprogrammiert und die materielle Grundlage für einen Arbeiteraufstand gegeben.
Die globale Erfahrung der Krise
Und heute? »Mit der krisenhaften Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, die durch die Zunahme internationaler Ungleichheit geprägt wird, aber gleichzeitig mit ihren modernen Kommunikationsmitteln in wachsendem Ausmaß auch die abgehängte Mehrheit der Erdbevölkerung in den unterentwickelten Ländern erreicht, wird der Charakter der Welt als Eine Welt betont und gleichzeitig existenziell bedroht«, schreibt Stephan Krüger in seinem jüngst erschienenen Buch »Weltmarkt und Weltwirtschaft«. Es ist der Abschlussband seiner sechsteiligen Reihe »Kritik der politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse«, die mit ihren fast 4000 Seiten das überaus ambitionierte Ein-Mann-Projekt einer marxistischen Globalanalyse der letzten 200 Jahre ist.
Ein Maverick ist Krüger freilich nicht, er ist Mitglied der Sozialistischen Studiengruppe, die bis heute den intellektuellen Kern des Hamburger Verlags VSA ausmacht und zu der Autoren wie Joachim Bischoff, Christoph Lieber und Fritz Fiehler zählen, auf ihre Arbeiten kann er aufbauen. Leider verbaut er sich durch einen überkomplizierten, fachnarzisstischen Stil jede Breitenwirkung, wer mit Ach und Krach den »Kapital«-Lesekreis überstanden hat, wird wohl nicht gleich einen solchen für die Krüger-Enzyklopädie starten wollen. So wird man »Weltmarkt und Weltwirtschaft« eher als Steinbruch nutzen, wozu immerhin das sehr übersichtliche Inhaltsverzeichnis einlädt. Krüger liefert reichhaltiges theoretisches Material und noch reichhaltigere empirische Illustrationen, mit denen wir wieder zu solch kühnen Ausblicken gelangen können, wie Marx sie sich einst zutraute.
Krüger geht es darum, die Doppelbewegung zu analysieren, die eine globale Situation schafft und sie zugleich existenziell bedroht. In dieser globalen Situation ist alles vorhanden, um zu einer sozialistischen Transformation überzugehen, während sie aktuell weltweite Kriege und nationalistische Abschottung provoziert - und eine vermutlich sich sehr dramatisch und militärisch aufgeladen vollziehende Ablösung des Hegemonen USA durch China. Krüger zeigt, dass die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise immer den Weltmarkt impliziert hat und auf betrieblicher, nationaler wie schlussendlich auch auf globaler Ebene durch Blockaden gekennzeichnet ist. Diese Blockaden wirken als Beschleuniger von Produktivität, also intensivierter Ausbeutung. Die entscheidende Frage ist, ab wann sie nicht mehr diese Wirkung haben, sondern sich als zu starr für eine weitere progressive Entwicklung des Kapitalismus erweisen.
Sich eng an Marx haltend beginnt Krüger mit der ersten und wichtigsten Setzung: dass die Produktivkraftentwicklung auf Basis industrieller Produktion der Ersatz von lebendiger durch vergegenständlichte Arbeit (Maschinerie) bedeutet. Beschleunigtes Kapitalwachstum geht einher mit einer, so Marx, »rascher als sein eignes Wachstum beschleunigten relativen Abnahme seines variablen Bestandteils«. Die immer effektivere Ausbeutung lebendiger Arbeit impliziert der Tendenz nach ihre Verdrängung aus dem Produktionsprozess - dieser paradoxe Erfolg des Kapitalismus ist bekannt als »Fall der Profitrate«. Krüger hütet sich davor, daraus unmittelbare empirische Tendenzen abzuleiten, die immanenten Spielräume des Kapitals sind zu groß, um einen ungebremsten Fall der Profitrate zuzulassen. Aber was er sehr wohl empirisch nachweisen kann: abnehmende Wachstumsraten von Mehrwert- und Profitmasse wegen Steigerung der Wertzusammensetzung des Kapitalvorschusses und das im globalen Maßstab. Er nennt das »strukturelle Überakkumulation von Kapital«. Sie setzt sich zunehmend beschleunigend über die Wirtschaftszyklen hinweg durch und wäre schon in der glorreichen Zeit der Nachkriegsprosperität nachzuweisen gewesen.
Dadurch wird nachvollziehbar, warum ab den 1970er Jahren das Kapital die Institutionen zu schleifen begann, die zuvor ein Garant der Prosperität waren - den Sozialstaat und die Sozialpartnerschaft mit den Gewerkschaften, anders ausgedrückt: den Klassenkompromiss in Westeuropa und Nordamerika. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Schwächung der Gewerkschaften, die Auflösung innerbetrieblicher Strukturen durch Outsourcing, die Rückkehr zu Formen absoluter Mehrwertproduktion (Verlängerung von Arbeitszeiten), die die Arbeiterinnen und Arbeiter zunehmend ohnmächtig als Dominanz des Kapitals erfahren, resultieren aus innerer Schwäche des Kapitals. Das ist die Pointe!
Gegen Geschichtsphilosophie
Die politischen und sozialen Effekte machen aber nur eine Seite aus, die andere, so Krüger, ist die Verselbstständigung und zunehmende Bedeutung der Finanzverhältnisse gegenüber der reproduktiven Kapitalakkumulation. Mit dem Geld, das sich nicht mehr gewinnbringend investieren lässt, weil die Investitionen nicht mehr, oder zu langsam, zu einer erweiterten Akkumulation führen, wird nun spekuliert. Das enthüllt den wahren Charakter der Globalisierung, in Krügers Worten: »Globalisierung als zeitgenössisches Phänomen der Internationalisierung bedeutet daher in erster Linie für die am weitesten integrierten Märkte, also die Finanzmärkte an ihrem kurzen Ende, eine typische Entwicklung. Für den für die Kapitalakkumulation und die Finanzierung der öffentlichen und privaten Haushalte wichtigeren Kapitalmarkt kann allenfalls von einer stärker wirkenden währungsüberschreitenden Ausgleichungstendenz gesprochen werden, also einer nur quantitativ und nicht qualitativ veränderten Internationalisierung.« Platt ausgedrückt: Geldverhältnisse lassen sich leichter universalisieren als Produktionsverhältnisse, mit dem Ergebnis, dass jene diese unter Druck setzen, gar auslaugen und zerschlagen können.
Jetzt wird klar, warum die Globalgeschichte so fröhlich positivistisch aufspielt und die kunstvollen Textkonstruktionen, die die beiden zeitgenössischen Bände von Osterhammels »Geschichte der Welt« prägen, stets etwas willkürlich anmuten: Fortschritt und Zerfall, Dominanz über die (Lohn-)Abhängigen bei gleichzeitiger Erlahmung der Akkumulation und Flucht in die Spekulation, Internationalisierung und »Rückfall« in nationale Borniertheit verschlingen sich. Die kapitalistische Entwicklung ist mit dem Empirismus der Globalgeschichte - als letzter Spross ehemals stolzer bürgerlicher Geschichtsbetrachtung - nicht auf einen Begriff zu bringen. Deshalb erscheint jeder Zugang zum historischen Prozess, solange er nur »global« zu sein behauptet, gleichwertig - im Guten wie im Schlechten.
Karl Korsch hatte in seinem Essay »Notes on History« schon 1942 die Auflösung der Geschichtsphilosophie konstatiert. Sie legitimierte - von der Aufklärung bis Hegel und Droysen, vielleicht bis Marx - das sich ökonomisch und auch politisch durchsetzende Bürgertum. Dieser dem Fortschritt verpflichtete, linear strukturierte Denkstil zerfiel unter den Bedingungen von Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg in positivistische Geschichtsbetrachtung einerseits, andererseits in ein hierarchisierendes, bloß noch in der Vorstellung von Zyklen - Untergang und Wiederkehr - sich bewegendes Denken. Für die Revolutionäre von heute, so Korsch, kann es kein Zurück zur Geschichtsphilosophie mehr geben. Geschichtsbetrachtung losgelöst von konkreten sozialen Tatbeständen und den in sie intervenierenden Aktionen ist bloß noch fetischistisch. Das gilt auch für ein so beeindruckendes Werk wie das von Stephan Krüger: Ohne den Bezug zu Klassenkämpfen - historischen wie aktuellen - veröden seine langen Beweisketten. Das wäre aber Aufgabe der marxistischen Intelligenzija: Mit dem Wissen um die abstrakten Strukturprinzipien sich in die Kämpfe unserer Zeit einzumischen - nicht um zu siegen, sondern um hinterher unsere Niederlage besser zu verstehen.
Stephan Krüger: Weltmarkt und Weltwirtschaft. Internationale Arbeitsteilung, Entwicklung und Unterentwicklung, Hegemonialverhältnisse und zukünftiger Epochenwechsel. Kritik der Politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse, Band 6. VSA-Verlag, 608 S., geb., 35 €.
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