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Vor der bleiernen Zeit
Vor 50 Jahren wurde in Westberlin mit Georg von Rauch eine linksradikale Integrationsfigur unter ungeklärten Umständen ermordet. Für die bundesrepublikanische Linke war es ein Einschnitt - der bis heute nachwirkt
Georg von Rauch war 24 Jahre alt, als er am 4. Dezember 1971 in der Eisenacher Straße im Westberliner Bezirk Schöneberg ermordet wurde. Ob es sich bei den Tätern um eine oder mehrere Personen gehandelt hat, ob diese Personen Polizisten waren oder vielleicht doch Beamte des Verfassungsschutzes, ob Georg von Rauch selbst zuerst schoss, wie oft insgesamt durchgezogen und abgedrückt wurde, welche Kugeln mit welcher Absicht, aus welchem Missverständnis oder durch wessen Unvermögen in welche Richtung flogen - all das ist seit 50 Jahren unaufgeklärt. Dieser Text versucht nicht, daran etwas zu ändern, sondern fragt, was dieser Mord für die außerparlamentarische Linke der Bundesrepublik bedeutete - damals und möglicherweise bis heute.
»Georg war eine Integrationsfigur«, sagt einer, der ihn kannte - aus der politischen Arbeit in einer der zahlreichen roten Zellen, die sich damals an den Westberliner Universitäten gebildet haben. Der Soziologiestudent Georg von Rauch habe mit Kommiliton*innen über Bakunin diskutiert, sich gleichzeitig interessiert für die Erfahrungen von Jugendlichen, die aus den Heimen ausgerissen waren und für die Konflikte, die Lehrlinge mit ihren Chefs hatten. Er hatte sich losgesagt vom großbürgerlichen Elternhaus, lebte in einer Wohngemeinschaft, war verheiratet mit einer Künstlerin, Vater einer Tochter, engagierte sich in einer der damals neuen Kinderladeninitiativen ebenso wie im SDS und für politische Gefangene. Die marxistisch-leninistischen Gruppen kritisierte er für ihren Dogmatismus und ihre autoritären Strukturen. »Umherschweifende Haschrebellen« nannte sich seine Gruppe, die gerne provozierte, aber auch freundschaftliche Kontakte zu Andreas Baader und Ulrike Meinhof pflegte.
Anarchische Subkultur
»Es war damals alles viel durchlässiger«, so formuliert es eine, die auch dabei war. Das bezieht sich auf Grenzziehungen, die ihrer Ansicht nach heute viel zu selbstverständlich akzeptiert werden: zwischen Worten und Taten, Popkultur und Politik, Satire und Gewalt, aber eben auch zwischen Ladendiebstahl, Dokumentenfälschung, Waffenbeschaffung, legal und illegal. So verprügelten Georg von Rauch und sein Freund Tommy Weisbecker 1970 einen Journalisten der »Quick«, als »symbolische Strafaktion« gegen die Hetzkampagnen der Illustrierten. Deshalb kamen sie wegen Nötigung, Körperverletzung und versuchtem schweren Raub in Untersuchungshaft. Wie sie sich daraus befreiten, klingt heute wie aus dem Drehbuch einer realitätsfernen Verwechslungskomödie: Als Weisbecker Haftverschonung gewährt wurde, verließ von Rauch an seiner Stelle den Gerichtssaal - und als der Irrtum auffiel, musste der Richter den anderen Angeklagten natürlich auch gehen lassen. Die beiden Freunde sahen sich tatsächlich ähnlich. Vor allem aber hatten sie sich, mit einen guten Gespür für Satire, die damals vom Staat und weiten Teilen der Medien verbreiteten Klischees - »langhaarige Bombenleger, nichtsnutziges Pack, Terroristen« - geschickt zu eigen gemacht. Dieses »Verwechslungs-go-out« sorgte in der gesamten BRD-Linken für Bewunderung und Gelächter.
Einer, der damals noch im gutbürgerlichen Süden von Berlin zur Schule ging, schreibt mir: »Wie haben wir uns amüsiert auf dem Bolzplatz hinter dem Studentendorf Schlachtensee, wo wir Jungens mit den großen Studenten Fußball spielten - wenn sie uns mal mitspielen ließen.« Voller Bewunderung seien er und seine Freunde gewesen für die Älteren, die viel längere Haare hatten, die klug und listig waren, mehr Alarm machten als sie selbst in ihrem Jugendzentrum im Keller einer linksliberalen Kirchengemeinde.
Und die Gewaltfrage, an der sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten so viele Linke zerstritten? Dass Georg von Rauch und zahlreiche seiner Freunde Pistolen trugen, war etwas, dass der damals 16-Jährige durchaus verstehen konnte, auch wenn er selbst nie eine in die Hand genommen hätte. Denn die Gewaltbereitschaft der Herrschenden sei allgegenwärtig gewesen. Eine Gewalt, die keine drei Jahrzehnte zuvor die Konzentrations- und Vernichtungslager ermöglicht hatte, über deren Opfer in der progressiven Kirchengemeinde immerhin gesprochen wurde. Eine Gewalt, die sich zeigte in den autoritären Vätern, die in bürgerlichen Wohnzimmern über ihre Nazi-Vergangenheit schwiegen, aber gegen die Musik und Mode der »langhaarigen Affen« wetterten und durchaus auch handgreiflich wurden. Eine Gewalt, die in den Prügelstrafen und Vergewaltigungen der Heimerzieher zum Ausdruck kam, aber auch in den Schlagzeilen, mit denen die Boulevardpresse seit Benno Ohnesorgs Tod Protestierende zum Abschuss freigab.
Angriff auf einen Politikansatz
Weil die herrschende Gewalt allgegenwärtig war und alles mit allem zu tun hatte, mussten und sollten auch die Protestaktivitäten so vielfältig wie möglich sein. »Es gab wirklich so ein Gefühl, dass wir jeden und jede brauchen und umso stärker werden, je vielfältiger die Talente sind, die wir für unsere Bewegung gewinnen können«, erklärt mir der Aktivist von damals. Für breite Bündnisse habe Georg von Rauch damals wie kaum jemand sonst gestanden. Und seine Ermordung sei ein staatlicher Angriff auf diesen Politikansatz gewesen - und zwar ein erfolgreicher, langfristig betrachtet jedenfalls. Kurzfristig geschah zunächst das Gegenteil: Nach einem »Teach-in« an der Westberliner Technischen Universität besetzten ein paar Tage nach der Tat fast 600 Jugendliche, Lehrlinge, Heimkinder und Trebegänger*innen zusammen mit Studierenden einen Teil des leerstehenden Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg und benannten es nach Georg von Rauch. Die Arbeiter*innennachbarschaft unterstützte die Besetzung, die Band Ton Steine Scherben um Rio Reiser schrieb den seitdem unvergessenen Song. Trotz einer Räumung im Jahre 1973 gibt es im Rauch-Haus bis heute ein selbstverwaltetes Wohnprojekt.
Unübersehbare Ungereimtheiten
Gleichzeitig führten die offensichtlichen Versäumnisse, Ungereimtheiten und Manipulationen in den Ermittlungen zum Tod von Georg von Rauch dazu, dass bis weit in die bürgerliche Presse hinein unangenehme Fragen gestellt wurde: Wieso wurde der aus der Untersuchungshaft entflohene Anarchoaktivist als »Mitglied der Baader-Meinhof-Bande« zur bundesweiten Fahndung ausgeschrieben? Am Tag vor seiner Erschießung? Obwohl die Berliner Polizei seinen Aufenthaltsort bereits kannte und ihn einfach hätte festnehmen können? Nur um ein paar Stichpunkte zu nennen, die dazu angetan waren, das Gewaltmonopol des Staates oder mindestens dessen Umgang mit diesem Monopol in Frage zu stellen. Was linksliberale Intellektuelle wie Erich Fried und Heinrich Böll auch öffentlich taten. Als dann im »Roten Kalender« des Westberliner Wagenbach-Verlags zu lesen war, dass Georg von Rauch - wie zuvor schon Benno Ohnesorg - von der Polizei ermordet wurde, handelte sich der Verleger Klaus Wagenbach 1973 eine Anklage wegen Beleidigung ein. Gegen den darauf folgenden Freispruch legt der Polizeipräsident Berufung ein. Anlässlich des 1975 eröffneten zweiten Prozesses, der mit einer Verurteilung endete, veröffentlichte der Wagenbach-Verlag im Jahr darauf unter dem Titel »Die Erschießung des Georg v. Rauch« eine noch heute lesenswerte Materialsammlung.
Im Vorwort des Buches heißt es: »Die politische Entwicklung freilich ist deutlich: Als am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschossen wurde, wurde der Todesschütze freigesprochen, aber er musste sich in zwei Gerichtsverfahren verantworten, wurde später entlassen und auch der Polizeipräsident dankte ab. 1971 war das schon anders - der Schütze wurde gar nicht mehr angeklagt, der Polizeipräsidentenstuhl wackelte nur ein wenig (allerdings offenbar genug, um künftig jedes Rütteln als ›Ehrverletzung‹ anzusehen) aber auch seinerzeit musste eine liberale Öffentlichkeit noch beruhigt werden mit höchst zweifelhaften ›Schussgutachten‹ und nachgestellten Filmen vom ›Tathergang‹. 1975 schließlich reichen dann solche lückenhaften Unterlagen bereits aus, die liberale Öffentlichkeit (...) per Gerichtsurteil zum Schweigen zu bringen.«
Staats- und Polizeigewalt
Die damalige Einschätzung hätte seitdem noch häufiger gepasst, so beispielsweise anlässlich der zahlreichen rechten »Einzeltäter« oder der immer in »Notwehr« schießenden staatlichen »Ordnungshüter«. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob man - wie der junge Aktivist von früher - überzeugt ist, der Staat habe seit den damaligen Tagen die Neonazi-Strukturen maßgeblich mit aufgebaut, von denen er sich heute halbherzig distanziert. Oder ob man sich, wie der damals 16-jährige Schüler, darauf beschränkt, »eine Kontinuität der Nichtaufklärung, wann immer der Verfassungsschutz seine Finger im Spiel hat«, festzustellen. Doch genau entlang solcher unterschiedlichen Einschätzungen zerlegte sich nach der Ermordung Georg von Rauchs das zuvor breite außerparlamentarische Bündnis der BRD-Linken. Die Bewegung 2. Juni, die RAF, unzählige K-Gruppen, Spontis, Pazifisten, Frauengruppen, Kulturschaffende, Politpromis - sie alle waren zunehmend damit beschäftigt, sich wechselseitig zu misstrauen und zu bekämpfen. Ein Zersetzungsprozess, den eitle Selbstdarsteller und eingeschleuste Spitzel nach Kräften beförderten, während das staatliche Gewaltmonopol juristisch wie technisch aufgerüstet wurde: Rasterfahndung, Hochsicherheitstrakt, »finaler Rettungsschuss«, Paragraf 129a, verdachtsunabhängige Telefonüberwachung.
Die Vorstellung, Gegenwehr sei möglich dank einer Pistole im Hosenbund, hat sich seit dieser bleiernen Zeit nachhaltig erledigt, sagt der Aktivist heute. Doch militanter Widerstand sei immer noch und wieder nötig, angesichts von Klimakrise, tödlichen EU-Außengrenzen und NSU 2.0. Wie er heute aussehen kann, darüber muss gestritten werden, so der damalige Schüler, betriebsintern, aber solidarisch nach außen. Eine Kunst, die Georg von Rauch beherrschte und sicher gerne weiter gepflegt hätte.
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