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Jenseits des Phallus
Catherine Malabou sucht den Platz der Klitoris in der Philosophie
Was haben Klitoris und Anarchie gemeinsam? In ihrem neuen Buch verbindet Catherine Malabou abermals biologische Beobachtungen mit Fragen der politischen Organisation. Bis zuletzt hatte die 1959 in Algerien geborene Philosophin an ihrem Großprojekt zur Plastizität gearbeitet, wovon »Was tun mit unserem Gehirn« und »Ontologie des Akzidentellen« auf Deutsch erschienen sind. Jenseits ihrer Forschungen über Neurowissenschaften und Philosophie hat sie über das Weibliche in der Philosophie geschrieben. So erschien bereits 2009 das wenig beachtete Buch »Changer de différence«. Jetzt folgt als feministische Streitschrift im blumenbedeckten Boticelli-Cover »Negierte Lust. Die Klitoris denken«. Es geht um die »ausgelöschte Lust«, so der französische Originaltitel.
Warum wird die Klitoris verdrängt? Das Organ des Orgasmus findet keinen Platz, konstatiert Malabou, obwohl heute kaum noch jemand glaubt, dass Sex allein der Fortpflanzung diene. Dass die Klitoris bei Frauen der Gattung Mensch im Gegensatz zu anderen Säugetieren weiter von der Vagina entfernt ist, also nicht direkt oder nicht immer durch Penetration stimuliert wird, bezeichnet Malabou als »politische Anatomie«. Allein dadurch seien Lust und Fortpflanzung positiv entkoppelt: Eine »Lust für nichts«. Als Gesprächspartnerin wählt sie Simone de Beauvoir. Die »begreift das Verhältnis zwischen Klitoris und Vagina als eine politische Beziehung, als Ausdruck einer Ungleichheit zwischen einem Subjekt, das zwei Organe besitzt, und einem Subjekt, das nur eines hat.«
Malabou geht aber nicht nur der Frage der verdrängten Klitoris - und deren Abwertung bis zur Genitalverstümmelung - nach, sondern gibt zugleich einen Überblick über die feministischen Positionen der Gegenwartsphilosophie. Sie bezeichnet sich selbst als radikale Feministin, doch sei sie »weit weg von jenen, für die die sexuelle Binarität in Stein gemeißelt ist«. Und fährt fort: »Aber ich bin auch dagegen, die sehr frühen Feministinnen avant la lettre zum alten Eisen zu zählen, waren sie es doch, die den radikalen Feminismus erst ermöglicht haben.« Damit meint sie de Beauvoir, Carla Lonzi und Silvia Federici. Warum diese für Malabou allerdings unter »avant la lettre« geführt werden, erschließt sich nicht. Immerhin nannten oder nennen sie sich selbst so, auch der Feminismus existierte als Begriff bereits. Solche Ungenauigkeiten trüben, wie auch der teils apodiktische Stil, die Lektüre.
Stark ist das Buch in der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, vor allem mit Sigmund Freud und Jacques Lacan. So galt nach Freud die klitorale Sexualität als frigide und kindlich. Frauen brauchen deshalb, so Malabou, eine eigene Geschichte ihrer Lust. Das ist leichter gesagt als getan. So stellte bereits Françoise Dolto, eine Schülerin Lacans, fest, sie wisse »überhaupt nicht, was mir meine Weiblichkeit bedeutet. Ich weiß nicht, irgendetwas macht es mir unmöglich, davon zu sprechen«. Doch so sehr die Klitoris in der Philosophiegeschichte verschwindet, mitsamt der Spuren ihrer Verdrängung, so taucht sie für Malabou - als Schülerin des Philosophen der Dekonstruktion Jacques Derrida - in anderen Formen immer wieder auf: unerwartet, plötzlich, sprunghaft.
Für Malabou endet das Denken über die Klitoris in ihren Machtverhältnissen zu oft in dem Vergleich mit dem Penis. Diese Analogie müsse durchbrochen werden, denn sie sei es, was das nicht-binäre ausmache, dass der Frau durch ihren klitoralen Körper inne sei. Das Klitorale ist damit auch eine andere Ordnung des Denkens. Hier zieht Malabou die Verbindung zur Anarchie, zur Bedrohung der Ordnung in ihrer Gesamtheit. Denn nichts ist unter kapitalistischen Verhältnissen anstößiger als die Freiheit der zweckfreien Lust, die Klitoris. Malabou hat ihr nun zu einem Platz in der Philosophie verholfen.
Catherine Malabou: Negierte Lust. Die Klitoris denken. Diaphanes, 120 S., br., 18 €.
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