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Alte Vakzine gegen neue Varianten
Die derzeit verfügbaren Corona-Impfstoffe schwächeln bei der Wirksamkeit. Das Booster-Geschäftsmodell ist hier nicht förderlich
Von den Herstellern der mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 gab es bisher meist ähnlich lautende, optimistische Verlautbarungen zur Wirksamkeit ihrer Vakzine. Mit dem Auftreten der Omikron-Mutante hat sich das nun geändert. Stéphane Bancel, Vorstandschef von Moderna, sorgte in dieser Woche für einigen Rummel mit der Aussage, wegen der vielen Mutationen der neuen Variante gingen Wissenschaftler von einer »erheblichen Abnahme« der Schutzwirkung aus. Dagegen sagte Biontech-Chef Ugur Sahin, er sei zuversichtlich, dass Corona-Impfstoffe auch im Fall weiterer Virus-Varianten vor schweren Krankheitsverläufen schützen werden. Belastbare Zahlen dazu gibt es bisher nicht. Derzeit laufen Labortests, was noch einige Tage dauern und auch nur erste Hinweise zur Wirksamkeit geben wird.
Experten rätseln, wie es zu derart unterschiedlichen Einschätzungen kommen kann. Die Impfstoffe beider Unternehmen brachten trotz wichtiger Unterschiede im Detail bisher ähnlich gute Resultate bei der Immunisierung vieler Millionen Menschen. Möglicherweise zielt die Aussage von Moderna-Chef Bancel auf den generellen Schutz vor Infektion. Dieser hat bereits bei früheren Varianten abgenommen. Ursprünglich wurden die Vakzine gegen den Wuhan-Typ von Sars-CoV-2 entwickelt. In Europa folgten auf diesen nach und nach drei Mutanten bis zur derzeit dominierenden Delta-Variante, die jeweils deutlich infektiöser als die vorherige waren und darüber hinaus zu mehr Impfdurchbrüchen führten - auch bei doppelt, also vollständig Geimpften. Der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, erklärte kürzlich, die derzeitigen Corona-Impfstoffe verminderten die Übertragung der hochansteckenden Delta-Variante nur noch um 40 Prozent.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Daher gibt es ein Problem - unabhängig davon, ob oder wo sich Omikron durchsetzen wird. Biontech und sein Partner Pfizer hatten schon früh die Lösung parat: »Ein wahrscheinliches Szenario« sei eine dritte Dosis binnen sechs bis zwölf Monaten und dann jährliche Auffrischungsimpfungen, sagte Pfizer-Chef Albert Bourla bereits im April. Bei der Entwicklung des Impfschemas spielten neue Varianten eine »entscheidende Rolle«. Damals dominierte noch die britische Variante Alpha, und die Notwendigkeit eines Boosters war nicht sicher belegt. Mittlerweile ist aber klar, dass Alte und Vorerkrankte die dritte Spritze brauchen.
Man muss wissen: Wenn sich die Chefs dieser Pharmafirmen äußern, sprechen zwar medizinische Fachleute, aber eben auch Verkäufer von Produkten. Aus geschäftlicher Perspektive sind die Varianten fast schon ein Glücksfall, da ein Impfschema die Folge ist, das praktisch für eine nie endende Nachfrage insbesondere aus dem zahlungskräftigen globalen Norden sorgen könnte. Die Hersteller haben ja große Produktions- und Abfüllungsanlagen errichtet, die auch in Zukunft ausgelastet werden wollen, wenn sich die Impfquoten kaum noch steigern lassen. Biontech/Pfizer werben für ein bewährtes Produkt, das noch immer gut vor schweren Erkrankungen schützt, extrem selten schlimme Nebenwirkungen erzeugt und sich zu einer Art Aspirin unter den Vakzinen entwickeln könnte. Von einem Blockbuster abzurücken, ist mit Blick auf Bilanzen und Gewinne natürlich heikel.
Moderna scheint hier nun auszuscheren, wie Bancels Aussage zu Omikron andeutet, und auf ein geändertes Geschäftsmodell zu setzen. Das könnte daran liegen, dass Modernas Vakzin sich weniger gut verkauft und zumindest in Teilen Europas aus unerfindlichen Gründen ein schlechteres Image genießt als das des Konkurrenten Biontech. Tatsächlich gibt es eine Alternative zum ständigen Boostern mit nicht mehr optimalen Vakzinen: die Entwicklung angepasster Impfstoffe. Moderna arbeitet nach eigener Aussage bereits an der Entwicklung eines Omikron-Impfstoffs, was einige Monate dauern könnte. Biontech-Chef Ugur Sahin, der am Freitag erstmals die Notwendigkeit eines neuen Impfstoffes betonte, spricht von 100 Tagen, bis man erste Chargen herstellen könnte. Auch der Proteinimpfstoffhersteller Novavax und der Sputnik-Entwickler, das Moskauer Gamelaja-Institut, sind nach eigener Aussage dabei.
Das alles klingt besser, als es ist. Zwar lassen sich gerade die neuen mRNA- und wohl auch die Vektorimpfstoffe im Labor recht schnell modifizieren. Doch dann müssen die modernisierten Vakzine getestet werden, und das dauert. Biontech hatte im Frühjahr einen Impfstoff gegen die inzwischen praktisch nicht mehr auftretende Alpha-Variante auf die Reise geschickt. Im Sommer wurde mitgeteilt, es liefen jetzt die klinischen Phase-II/III-Studien. Böse Zungen behaupten, man habe es hier nicht eilig gehabt - anders als bei den Tests zu den Booster- und Kinder-Impfungen mit dem alten Produkt.
Zur in weiten Teilen der Welt dominierenden Delta-Variante steht gar kein Impfstoff vor der Zulassung. Laut Branchenangaben laufen zwar bei mehreren Herstellern klinische Tests, doch keines befindet sich in der entscheidenden und aufwändigsten Phase III. Das deutsche Unternehmen Curevac und der US-Hersteller Sorrento Therapeutics arbeiten an Vakzinen, die mehrere Varianten abdecken sollen, doch diese sind offenbar noch in der vorklinischen Entwicklung.
Müssen wir also frustriert feststellen, dass das Virus einfach schneller mutiert als Impfstoffe entwickelt werden? Ja, aber dies ist keine neue Herausforderung - bei der saisonalen Grippe stellt sie sich jedes Jahr. Die Influenza-A-und-B-Viren mutieren schnell und häufig, doch hier hat die Welt einen pragmatischen Umgang gefunden: Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sichten Daten aus vielen Ländern und geben einmal jährlich Empfehlungen ab, wie das Vakzin, meist ein Vierfachimpfstoff, zusammengesetzt sein soll, um gegen die voraussichtlich zirkulierenden Mutationen am besten zu schützen. Auf dieser Grundlage können Hersteller dann loslegen. Auch dies ist festgelegt: Viren werden in Hunderten Millionen Hühnereiern herangezüchtet und dann inaktiviert. Das Verfahren kann bis zu einem halben Jahr dauern, weshalb schnellere Verfahren in der Erprobung sind. Trotzdem erreichen die Impfstoffe nach Tests, Zulassung und Impfempfehlung - natürlich nur für die Risikogruppen: Alte und Vorerkrankte - pünktlich zur Grippesaison die Nord- und die Südhalbkugel.
Auch wenn es hier um kleinere Mengen geht - dieses Regime unter dem Dach der UN hat sich über viele Jahre eingespielt. In der Corona-Pandemie ist man weit davon entfernt. Hier hat sich ein Wettrennen der Hersteller entwickelt, das zu sehr vielen Impfstoffen, Impfstoffkandidaten und auch großen Produktionsmengen geführt hat. Doch es gibt eine unheilvolle Vermischung aus Profitstreben, Nationalismus bei der Beschaffung und außenpolitischen Interessen bei Lieferungen, was nicht nur zu der weltweit extrem ungerechten Verteilung der Impfstoffe führt, sondern auch Innovationen nicht unbedingt fördert. Die Weiterentwicklung bleibt letztlich dem Zufall überlassen.
Moderna verweist mit Blick auf die vielen Varianten, die regional nennenswert in Umlauf sind, zudem auf ein technisches Problem. Man könne nicht die gesamte Produktion auf einen Omikron-Impfstoff umstellen.
Und so wird man sich auf lange Zeiträume einstellen müssen: »Es gibt keinen Zauberstab zum Hochfahren der Produktion«, sagt Rasmus Bech Hansen, Chef des Wissenschaftsanalyse-Unternehmens Airfintiy. Die Londoner Datenexperten haben ausgerechnet, wie lange es wohl dauern würde, bis die Impfstoffhersteller weltweit sechs Milliarden Dosen eines Omikron-Impfstoffs produziert haben könnten. Ergebnis: Januar 2023. Bei einer Komplettumstellung könnte dies bis Oktober kommenden Jahres gelingen. Dies hätte aber zur Voraussetzung, dass sich Omikron weltweit ausbreitet, was von Fachleuten als äußerst unwahrscheinlich angesehen wird, und dass keine anderen neuen Mutationen wieder Omikron verdrängen.
Und so muss man erst mal mit dem vorlieb nehmen, was derzeit vorhanden ist beziehungsweise zeitnah vor der Zulassung steht. Im Vergleich zu den mRNA-Impfstoffen bringen die neuen Vakzine wohl keine so hohe Wirksamkeit aus den Tests mit - allerdings hatten sie es anders als Biontech und Moderna in den Studien schon mit Delta zu tun.
Diese Aussichten bedeuten zweierlei: Die Impfstoffe müssen endlich global gerecht verteilt werden. Und die sogenannten nicht pharmakologischen Maßnahmen werden uns wohl noch längere Zeit begleiten.
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