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Die begrabene Revolution

»Die Weber:innen« nach Gerhart Hauptmann am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin

Alles nur eine Frage klassistischer Diskriminierung? Die Schweriner Theaterinszenierung »Die Weber:innen« nimmt das Elend in den Blick.
Alles nur eine Frage klassistischer Diskriminierung? Die Schweriner Theaterinszenierung »Die Weber:innen« nimmt das Elend in den Blick.

Mit Stofffetzen ist die Bühne übersät. Das bunte Elend symbolisiert Mühsal und Plackerei, die womöglich bis zum Tod andauern. Aus dem Lumpenmeer ragen drei Greifautomaten mit leuchtender Beschriftung und enervierendem Sound hervor, wie man sie von Jahrmärkten kennt. Mit etwas Glück oder Geschick oder beidem kann man ein Kuscheltier ergattern. Vielleicht ist das ein sinnfälliges Zeichen für den krampfhaften Versuch, etwas Schönes zu ergattern in einer tristen Welt. Ein Versuch, der häufiger scheitern muss, als er gelingen kann, damit das Prinzip aufrechterhalten werden kann, damit die Aufstellung des Automaten lohnt. Es ist ein Spiel, das jeder durchschauen kann - und bereitwillig spielt man mit. Wo auch läge die Alternative?

In diesem bitteren Bühnenabbild der Lebensrealität derjenigen, die von ihrer Hände Arbeit leben müssen, aber kaum leben können, übersieht man auf den ersten Blick die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler. Stumm und starr stehen sie zwischen den Lumpen. Ihre Kostüme zeigen geschundene Körper. Dann beginnt eine nach dem anderen Klänge zu erzeugen durch Klopfen und Schaben. Es ist der stupide Rhythmus der Arbeit, dem man hier zum Auftakt der Inszenierung von »Die Weber:innen« nach Gerhart Hauptmann im Schweriner E-Werk, der kleineren Spielstätte des Mecklenburgischen Staatstheaters, lauschen kann.

Es ist nicht zu übersehen: Mit diesem Einstieg bemüht sich der Regisseur Helge Schmidt zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Anika Marquardt und mit Moritz Krämer, der für die Musik verantwortlich zeichnet, Bilder zu finden für das von Hauptmann geschaffene Szenario, die weder bloße Vergangenheitsbewältigung noch reine Gegenwartsbeschreibung sind. Der Weberaufstand von 1844 am Vorvorabend der Märzrevolution ist eines jener historischen Ereignisse, das uns auch durch die Literatur ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben ist. Unter unmittelbarem Eindruck der damaligen Geschehnisse hat Heinrich Heine wohl eines seiner bekanntesten Gedichte verfasst mit der in Erinnerung bleibenden Formel: »Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch!« Knapp 50 Jahre später hat sich Gerhart Hauptmann des Themas angenommen und sein fünfaktiges Drama geschrieben. »Die Weber«, in einer schlesisch anmutenden Kunstsprache verfasst, ist eines der berühmtesten naturalistischen Theaterstücke und vielleicht das kämpferischste aus Hauptmanns Werk.

In Schmidts Inszenierung, die am vergangenen Freitag vor coronabedingt traurig-dezimiertem Publikum zur Premiere kam, wird das figurenreiche Drama von nur fünf Darstellern bewerkstelligt, die munter auch untereinander ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter die Rollen tauschen. Das verleiht dem Bühnenabend, der weniger als zwei Stunden dauert, ein schnelles Tempo und lässt Haltungen noch klarer werden. Dass Regieanweisungen hier laut vorgetragen werden, ist ein kluger Einfall. Etwas brechtischer Gestus hilft dem Hauptmann auf den Weg ins 21. Jahrhundert. Aber dieser richtige Ansatz verharrt im Zaghaften und verpufft dadurch.

Der Konflikt zwischen dem skrupellosen Fabrikaten Dreißiger und seinen Webern im ersten Akt findet auf der Bühne seinen klaren Ausdruck: Dreißiger ist nicht bereit, finanzielle Einbußen hinzunehmen. Seine Beschäftigten arbeiten bis zur völligen Erschöpfung. Wer sich dagegen auflehnt, wird abgestraft. Worte der Verbrüderung werden nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen, zu groß ist die Angst, der nächste zu sein, der auf auf die Straße gesetzt wird. Der Emporkömmling Pfeifer ist nicht weniger gnadenlos den entkräfteten Arbeitern gegenüber als der Fabrikbesitzer. »Weber hat’s genug«, heißt es im Text. Jeder ist ersetzbar.

Frei ist der Umgang mit dem Text in dieser Inszenierung. Und diese Freiheit zeigt sich nicht nur in der straffenden Kürzung, sondern zuweilen auch in der assoziativen Hinzufügung. Gleich mehrfach wird etwa das Lied »Europe is lost« (Europa ist verloren) der* Musiker*in und Literat*in Kae Tempest in deutscher Übertragung eingebaut: »Esther ist eine Pflegekraft, macht Nachtschichten«, heißt es immer wieder. Die Weber der Gegenwart zu suchen, ist sicher so falsch nicht. Aber hier bleibt es bei einem Fingerzeig, der zu sonst nichts führt. In Kombination mit der reichlich unterspannten elektronischen Musik fühlt man sich plötzlich in ein Milieu versetzt, in dem über Arbeitskampf vor allem theoretisierend gesprochen wird, während man auf die von Lieferando ausgefahrene Veggie-Bowl wartet.

Auch in dieser Inszenierung zeigt sich, dass die Beteiligten kaum noch etwas mit der Handlung im Stück anzufangen wissen, je weniger die Figuren bereit sind, sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Der Anteil der eingebauten Fremdtexte nimmt zu, plötzlich hält auch aufdringlicher Klamauk Einzug in die Inszenierung. Ist das ein ungerechter Vorwurf? Kann man denn heute überhaupt - und wenn ja, wie? - einen Aufstand, wie ihn Hauptmann beschreibt, auf die Bühne bringen? Ohne falsches Pathos, ohne ironische Färbung, ja ohne Peinlichkeit? Auf den Versuch müsste man es schon ankommen lassen, statt sich ihm wie hier zu entziehen. Und ist die vom Ensemble besungene Pflegekraft nicht denkbar als wirklich kämpfendes Subjekt? Der Abend stellt sich eher auf die Seite derjenigen, die im vergangenen Jahr vom Balkon aus Applaus »gespendet« und dabei von Solidarität gesprochen haben.

So dient der vierte Akt, der bei Hauptmann im Zeichen der Erhebung steht, als Vorlage für humoristisches Spiel. Kontrastiert wird das durch demonstratives Vorlesen aus dem »Atlas der Versklavung«, der über Zwangsarbeit in der Gegenwart aufklärt. Die Rede von nordkoreanischen Arbeitslagern und Zwangsprostitution versetzt die ohnehin historische Handlung dann noch zusätzlich in ein unbekanntes Irgendwo und entledigt sich damit jeder Unmittelbarkeit, zu der die darstellende Kunst die Möglichkeit gibt.

Im Programmheft gibt das Regieteam beredt Auskunft über ihre Lesart des Dramas. Es handele sich um ein Stück über Klassismus ist da zu lesen. Es gehe um Fragen der sozialen Herkunft. So schreibt und spricht jemand, der, von aktuellen Modediskursen inspiriert, über die Gemachtheit der Verhältnisse nicht reden will, sondern überall nur unverrückbare Identität sieht.

Im fünften Akt, in dem Hauptmann das Publikum den Aufstand mit dem alten Webermeister Hilse erwarten lässt, der, keineswegs eine unsympathische Figur, jedes Rühren an den Verhältnissen ablehnt, wird in der Schweriner Inszenierung durch ferne Klänge die Rebellion hörbar. Soldaten und Aufständische nähern sich. Bei Hauptmann trifft Hilse eine verirrte, eine tödliche Kugel. Ein merkwürdiges, erschütterndes Ende. Niemand, scheint uns ein noch junger Dramatiker zu sagen, kann sich den Auseinandersetzungen entziehen. Aber in Schwerin? Hier dreht der alte Mann sich um, das Licht geht aus, nur ein Glimmen aus der Ferne ist zu sehen. Und Schluss. Was das war? Ein Bühnentod vielleicht? Die Revolution? Wer weiß das schon.

Nächste Vorstellungen: 12., 15. und 23.12.

www.mecklenburgisches-staatstheater.de

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