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Der Thrill des Möglichen

Die vierteilige Doku »Allen vs. Farrow« könnte viel übers Machtgefälle unserer Zivilisation erzählen. Leider geht es nur um Woody Allen

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Wir sehen hier in den Abgrund einer berühmten amerikanischen Patchworkfamilie. Auf Allens Arm Adoptivtochter Dylan
Wir sehen hier in den Abgrund einer berühmten amerikanischen Patchworkfamilie. Auf Allens Arm Adoptivtochter Dylan

Das Fernsehen bedient sich gerne dreier Themenkomplexe, die jeder für sich betrachtet schon größtmögliche Zugkraft haben: alles mit Crime, alles mit Promis, alles mit Kindesmissbrauch. Falls diese Boom-Motive auch noch im selben Format aufeinandertreffen, ist bei Quotenzählern und Fans demnach Schnappatmung zu erwarten.

Angesichts der angesagten Kombination von »Allen vs. Farrow« dürfte der amerikanische Pay-TV-Sender HBO vor knapp einem Jahr also schwer hyperventiliert haben – und er lässt das deutsche Streamingportal RTL+ nun sogar mithecheln. Denn dort wird der dornige Rosenkrieg zwischen Woody Allen und Mia Farrow verarbeitet und ist in einer vierteiligen Dokumentation zu sehen. Und was das deutsche Publikum da vier Stunden lang verfolgen kann, ist True Crime der prominentesten Art mit dem Thrill des populärsten Krimisujets hiesiger Primetime-Unterhaltung: sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene.

Zu den Fakten: Woody Allen, seinerzeit einer der bedeutendsten Regisseure überhaupt, traf Anfang der 80er Jahre auf Mia Farrow, seit ihrer Titelrolle in Roman Polanskis Horrorfilm »Rosemaries Baby« ein Superstar des Independent-Kinos. Beiderseits des berühmten Central Parks begann eine dieser verschrobenen Lovestorys im Herzen seiner Heimatstadt, denen der New Yorker Allen sein halbes Filmemacherleben widmet. Und so beobachten wir fasziniert, wie dieser linkische Nerd mit Hornbrille und Haarausfall um die jüngere Schauspielerin mit drei eigenen und vier adoptierten Kindern wirbt – erfolgreich, wie allerlei Rückblenden ins prall gefüllte Bewegtbildarchiv der glamourösen Beziehung zeigen. Wären da nur nicht die dunklen Abgründe.

Schon zum Einstieg nämlich läuft Farrows achtes Kind Dylan, das sie gemeinsam mit Allen adoptiert hatte, als reife Frau mit feuerrotem Haar durchs schneebedeckte Connecticut und erzählt – zurück in der warmen Hütte – vom fortgesetzten Missbrauch durch ihren Adoptivvater. »Ich habe lange gebraucht«, sagt sie über vergilbte Familienalben gebeugt, »bis ich begreifen konnte, dass man jemanden gleichzeitig lieben und fürchten kann.« Seither hat sie ihn zwar konsequent aus jedem Foto weggeschnitten, nicht aber aus ihrer Erinnerung. Und um die geht es fortan: Erinnerung.

Nachdem der mutmaßliche Täter bei einer aufsehenerregenden Pressekonferenz mit dürrer Stimme jeden Übergriff leugnet, kämpfen seine angeblichen Opfer verbissen um Erlösung – allen voran seine Ex-Frau, die 30 Jahre später über den anfangs diffusen Verdacht berichtet, der sich mit jeder anstößigen Berührung zur Gewissheit verdichtet habe. Unterstützt von beängstigend umfassendem Originalmaterial tastet sich »Allen vs. Farrow« kenntnisreich bis zum Abgrund einer amerikanischen Patchworkfamilie vor.

True Crime der präzisen Art also, souverän inszeniert von Kirby Dick und Amy Ziering.
Leider verpassen beide Showrunner die Chance, in der Aufarbeitung eines – faktisch naheliegenden, aber juristisch widerlegten – Falles von sexuellem Missbrauch das zu suchen, was in der Ebene darüber zu finden ist: Die unendliche Geschichte von weiblicher Ohnmacht im Bann männlicher Allmacht. Und das in einer Gesellschaft, in der Bewegungen von #MeToo bis Black Lives Matters, dem nur langsam den ersehnten Spiegel vorhalten.

Gut drei Dutzend Filme hat Woody Allen seit seiner öffentlichen Erklärung 1992 gedreht, viele davon preisgekrönt, nicht wenige längst Klassiker. Dass der Prototyp des unsicheren, selbstironischen und damit für Frauen kaum bedrohlichen Stadtneurotikers als Mittfünfziger Farrows 21-jährige Adoptivtochter Soon-Yi verführt, tat seiner Popularität keinen Abbruch.

Abseits davon erzählt der Fall Allen Jahrzehnte vor den Enthüllungen übers branchenübliche Gebaren des Sexualstraftäters Harvey Weinstein eine Menge über misogyne Netzwerke westlicher Zivilisationen.

Ein Zustand, an dem HBO wenig Interesse zeigt, im Gegenteil. Statt »Allen vs. Farrow« soziokulturell einzuordnen, kombinieren Kirby und Ziering harmlose Homevideos väterlicher Zuneigung lieber so suggestiv mit aktuellen Unzuchtvorwürfen im Sorgerechtsstreit, dass sich unterm Teppich pathetischer Geigen der gewünschte Gruseleffekt einstellt und damit das, was Zuschauer von RTL+ wollen: gut recherchierten Thrill eines krassen Realkrimis. Nicht weniger. Nur leider auch nicht viel mehr.

Verfügbar in der RTL-Mediathek

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