Ein einzigartiges Kapitel deutscher Musikgeschichte

Der Musikjournalist Christian Hentschel feiert die Originalität, Kreativität und Nachhaltigkeit des Ostrocks

Tina Powileit gab Gundermanns Seilschaft den Rhythmus vor.
Tina Powileit gab Gundermanns Seilschaft den Rhythmus vor.

Wer hat das Erscheinen von Ostrock Zwo auf den Pioniergeburtstag gelegt? Den 13. Dezember, jenen Tag also, als die Kinderorganisation 1948 in der damals noch Sowjetischen Besatzungszone gegründet worden ist, alljährlich in der DDR gefeiert. Nun, so ganz falsch ist die Wahl nicht. Die meisten Ostrocker dürften bei den Jung- und später (ab der 4. Klasse) Thälmann-Pionieren gewesen sein. Und vielleicht noch heute, im reiferen Alter, die Zehn Gebote der Pionierorganisation kennen, in denen noch vor der Liebe zu den Eltern sowie dem Frieden und der Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und aller Länder versichert wurde: »Wir lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.« Wie weit die Liebe der Ostrocker jeweils zum »ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden« ging, sei dahingestellt. Sie lebten in diesem Staat, rieben sich an ihm, ärgerten sich über Unzulänglichkeiten und Unrechtmäßigkeiten, verbanden mit ihm aber auch Hoffnungen, Enthusiasmus, Lebensentwürfe, wurden enttäuscht, teils verboten oder gar vertrieben.

Die Zehn Gebote musste Sonny Thet nicht auswendig lernen, er kam als junger Mann in die DDR, von Prinz Sihanouk, dem einstigen Staatsoberhaupt von Kambodscha, nach Weimar geschickt, um in der Klassikerstadt klassische Musik zu studieren und dann in seinem Geburtsland Orchester nach europäischem Vorbild aufzubauen. »Aber dazu kam es nicht mehr, all unsere Träume wurden durch den Putsch zerstört. Es geschahen millionenfache Morde. Jeder, der lesen konnte oder auch nur eine Brille trug, war ein potenzielles Opfer«, erzählt Sonny Thet dem Herausgeber zweier bemerkenswerter Ostrock-Bücher, Christian Hentschel.

Der Kambodschaner kehrte nicht in die Heimat zurück, die unter dem Würgegriff der Roten Khmer stöhnte, litt und starb. Mehrere Familienangehörige von Sonny Thet wurden deren Opfer, ebenso sein ehemaliger Band-Kollege, der Cellist Li Song Leng. Jene Band, die unter dem Namen Bayon - nach einer der eindrucksvollsten Tempelanlagen in Kambodscha benannt - zu einer der angesagtesten in der DDR avancierte und die internationalste war (in ihr spielten Musiker von drei Kontinenten), hatte Sonny Thet während seines Studiums in Weimar 1971 gemeinsam mit dem Architekturstudenten Christoph Theusner gegründet. Sie entwickelten einen ganz eigenen, unverwechselbaren Stil, eine Mischung aus Klassik, Blues, Jazz und Rock, machten auch Musik fürs Theater, etwa zur Inszenierung von Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« im Deutschen Theater, für Heiner Müllers »Die Schlacht« oder für Ulrich Plenzdorfs »Legende vom Glück ohne Ende«. Hinzu kamen Aufträge für Literaturverfilmungen des DDR-Fernsehens. Dank treuer Fangemeinde und ständiger Neufindung, Kreativität und Fantasie hat Bayon (eine meiner liebsten Band neben Stern-Combo Meißen und anderen) wie nicht wenige andere Ostbands (wenn auch in teils wechselnder personeller Besetzung) den Untergang der DDR überlebt. Sonny Thet freut sich, dass »wir schon Weltmusik spielten, als es dieses Genre noch gar nicht gab«.

Obwohl durch Eisernen Vorhang und Mauer abgeriegelt oder »eingesperrt« in einem kleinen Ländle, nahm der Ostrock immer auch die weite Welt in den Blick - politisch pengagiert und klar positioniert. Als ein Beispiel (und wohl auch das bekannteste) sei hier das Album »Der blaue Planet« von Karat genannt, dessen titelgebender Song die Anti-Atomkriegs-Bewegung hüben wie drüben begleitete und bestärkte. Hentschel sprach mit Claudius Dreilich, dem Sohn des Bandgründers Herbert Dreilich, sowie mit Bernd Römer über grandiose Erfolge in Ost und West. Über zwölf Millionen verkaufte Tonträger und Coverversionen durch Westmusiker aller Sparten. Dass Karat die erste und einzige Band des Ostens war, die es »schaffte«, bei »Wetten dass ...?« zu sein, wie Hentschel anmerkt, dürfte eher von drittrangigem Nachrichtenwert sein.

»Wessis«, nach Ostrock gefragt, fallen außer Karat meist nur noch die Puhdys ein. Deren Erfolgsgeheimnis dies- und jenseits der deutsch-deutschen (!) Grenze (von »Zonengrenze« spricht irrigerweise Hentschel) waren ebenfalls tiefsinnige philosophisch-politisch-poetische Texte, von denen die bundesdeutschen Rock- und Popszene lange weniger tangiert schien. Im ersten Ostrock-Buch von Hentschel ist von den Puhdys »Rockrentner« Dieter »Maschine« Birr vertreten, der unbeirrt nach wie vor durch die Lande tourt. Weiterhin kommen hier zu Wort Sebastian Krumbiegel von den Prinzen, Wolfgang »Paule« Fuchs von Pond, vormals Babylon, eine Band, die mit der Selbstauflösung der DDR verschwand, sowie Norbert Leisegang von Keimzeit und Thomas »Monster« Schoppe von Renft. Und als einzige Lady Tina Powileit von Gundermann & Seilschaft. Einst dem ostdeutschen Staat gegenüber aufgeschlossene Westbundesbürger kennen sicher auch City (»Am Fenster«). Hentschel erkundigte sich bei Toni Krahl und Fritz Puppel nach ihrem Werdegang. Eingang fanden im zweiten Buch ebenso früher geführte Gespräche mit Holger Biege und Mike Schafmeier. »Mir war wichtig, auch an diese viel zu früh verstorbenen Musiker zu erinnern«, betont Hentschel.

Leider ist im zweiten Band nicht eine einzige ostdeutsche Rockdame zu finden. Vielleicht sollte dem »wirklich allerletzten Ostrockbuch« noch eine Fortsetzung folgen - mit Vertretern des selbstbewussten »schönen Geschlechts«, hatte es doch wesentlichen Anteil an der Vielseitigkeit und Vielstimmigkeit der Rock- und Punkszene der DDR. Immerhin wird im zweiten Band im Interview mit Jürgen Ehle von Pankow Scarlett O’ gewürdigt, seit 20 Jahren dessen Lebens- und Liederprogrammpartnerin. Von 1978 an gehörte sie der Folklegende Wacholder an, bis zu deren Auflösung 2001. Das Paar brachte jüngst zwei neue Alben auf den Markt, beinhaltend eine Hommage an Bert Brecht und Helene Weigel sowie - »Ach Gisela« - an die große Mime und Diseuse Gisela May. Ehle, dessen musikalische Laufbahn bei Jahrgang 49 begann, 1973 von Mitgliedern des Oktoberklubs gegründet, berichtet unter anderem über seine Kindheit in Ägypten als Sohn eines DDR-Außenhändlers und über anfängliche Schwierigkeiten, sich dann in der beengten DDR zurechtzufinden. Er spricht von einem »Kulturschock«.

Pankow wurden vom »Spiegel« dereinst als die »Stones des Ostens« bezeichnet - eine gängige Unsitte, Stars aus dem Osten würdigen zu wollen, in dem man ihnen ein Label aus dem Westen verpasst. So Gundermann als »Bob Dylan des Ostens«. Oder Wolfgang »Paule« Fuchs als »McCartney des Ostens«. Als hätte es sich nicht um originelle, authentische Künstlerpersönlichkeiten in der DDR gehandelt. Über die 1981 erfolgte Gründung der Band Pankow, zu der auch André Herzberg gehört, Sohn eines mit Kindertransport 1938 deutschen Antisemiten entkommenen Schoa-Überlebenden, schreibt Hentschel: »Das Timing war perfekt, Punk und New Wave stellten gerade auch international die Musikwelt auf den Kopf.« Pankow haben den Ostrock ordentlich entstaubt, urteilt der Autor und listet Hits auf wie »Werkstattsong«, »Die wundersame Geschichte von Gabi«, »Rock’n’Roll m Stadtpark« sowie das erste Rockspektakel »Paule Panke« und die Langspielplatte »Kille Kille«. Natürlich fehlt nicht die Geschichte von der Lehrerin Inge Pawelczik, die sich über den gleichnamigen Song der Band beschwerte, bieder-ernst sich über »du wilde Wahnsinnsmaus« mokierte.

Man begegnet im zweiten Ostrock-Buch Hans-Jürgen »Jäcki« Reznicek, der 1981 bis 1986 bei Pankow spielte und mit seinem wohl größten Erfolg, »Bataillon d’amour«, von Silly abgeworben wurde. Die Intonation dieses Liebesliedes (im ZDF damals verboten, weil anstößig!) durch die großartige Tamara Danz dürfte DDR-sozialisierten Bürgern noch immer im Ohr klingen. Und auch noch heute löst landauf, landab der von Karussell und Dirk Michaelis vorgetragene wehmütige Song »Als ich fortging« Begeisterungsstürme aus. Hentschel notiert hierzu: »Dass dieser derart einschlug, liegt nicht nur an der fantastischen Komposition, die Worte berührten uns im Innersten. Es war die Zeit, da viele das Land verließen.« Und so changierte der von der Lyrikerin Gisela Steineckert, zugleich erfolgreichste ostdeutsche Songwriterin, gedichtete Text mit der Einsicht »Nichts ist unendlich« zur eigentlichen Abschiedshymne der DDR. Und nicht, wie immer wieder fälschlich behauptet, David Hasselhoffs »Looking for Freedom« oder »Wind of Change« von den Scorpions.

Michaelis spricht auch über seine Adaption des 1949 von der damals 22-jährigen Kindergärtnerin Erika Schirmer aus Nordhausen verfassten Kinderlieds »Kleine weiße Friedenstaube«. »Man tut diesem wunderbaren und ideologiefreien Lied unrecht«, meint er hinsichtlich späteren Denunziationen. Über die - mittlerweile mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte - Autorin, die er hochbetagt 2019 traf, urteilt er: »Ich traf eine wundervolle, lebendige und tatkräftige Frau, die sich erhebliche Verdienste im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen erworben hat. (...) Auch ihre unkomplizierte Art, die Dinge beim Namen zu nennen, und ihre vielen großartigen Ideen, ihre Mitmenschen aufzurütteln und das Leben zu feiern, machten mich sehr dankbar.«

Zum Schluss und kurzum: Diese beiden Ostrock-Bände des Musikjournalisten und Managers Christian Hentschel sind ein gediegenes Geschenk zu Weihnachten, nicht nur für »Ossis«. Sie räumen einem einzigartigen Kapitel deutscher Musikgeschichte den verdienten Platz im öffentlichen Gedächtnis ein.

Christian Hentschel: Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch. Verlag Neues Leben, 320 S., geb., 20 €. Christian Hentschel: Das jetzt wirklich allerletzte Ostrockbuch. Ebenda, 320 S., geb. 22 €.

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