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  • Kultur
  • Günther Rühle gestorben

Ein Seher

Zum Tod des Theaterkritikers Günther Rühle

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Dieser Theatermensch genoss das Talent, zwei Zonen zu empfinden: die der Schöpfer und jene der Nach-Betrachter. Er war als Kritiker Nach-Erzähler. Von Welten, nicht der Handlung. Von Körpern, nicht von Konzepten. Er ging leer ins Theater, nicht mit einer Erwartung. Erwartungen sind getarnte Gesinnungen, sie verbauen das Erlebnis. Günther Rühle sah im abgespreizten Finger einer Schauspielerin mehr als in den Vorgaben politischer Pädagogik. Und gehörte doch zu den politischsten Köpfen des Gewerbes.

Keiner hat zum Beispiel Ost-West-Theater präziser erfasst. Die Besten der DDR wurden aus dem Land getrieben. »Aber immer wieder sind diesem bedrängten Theater neue Talente nachgewachsen. Das westdeutsche Theater hatte einen solchen Aderlass nicht zu beklagen und hat doch kaum mehr an entwicklungskräftigen Regisseuren hervorgebracht.« So viel zum Eigenwert von DDR-Kunst.

Rühle, 1924 in Gießen geboren, war Akademiepräsident in Frankfurt am Main und Kerr-Herausgeber. Seine Intendanzjahre in Frankfurt am Main (1985 bis 1990) waren eine Zeit des künstlerischen Vorstoßes, der die Gewohnheitsbürger abstieß. Er war Seher. Er sah das Genie Einar Schleefs, dessen Arbeit »am riskantesten Punkt künstlerischen Denkens: wo die Reisen ins Ungewohnte beginnen«. So auch sah er Rainer Werner Fassbinder, geriet als Theaterdirektor in antisemitischen Verdacht, als er dessen »Der Müll, die Stadt und der Tod« aufführen ließ. Schleef und Fassbinder - zwei Beispiele von Courage, die den Hass anzogen.

Er stand zuvor dem FAZ-Feuilleton vor, hat es - so sagen es die, die ihm nahestanden - nicht geleitet, er hat es gelebt. Er konnte anderen etwas vorschreiben, weil er schreiben konnte. Er sprach von der »Gnade der Selbsterregung«, ohne die ein Blatt nicht zu machen sei. Dies sei freilich nur im Feuilleton lohnenswert, wo es im »elenden Aktualitätsrausch« doch um den »stetigen Geist« ginge, im Gegensatz zu den Arbeitern im Frondienst der Tagespolitik, die ihr Leben mit dem Verzichtbarsten verbrächten: Parteiengezänk. Eine Ansicht, die ihm nicht nur Freunde in der Redaktion einbrachte. Wie das Wahrheiten so mit sich bringen.

Zwei große, starke Bände deutscher Theatergeschichte (ein dritter bleibt nun Fragment) erzählen das Wesen einer Denkungsart: Kaum etwas ist schwerer zu erkennen als die Richtung jener Prozesse, deren Zeuge man ist. So hat Rühle Theater beschrieben. Als Gleichnis. Für Jahrhundertwege, die auch über Bühnen führen: Sehnsucht zieht die Seelen, Ideologien verführen den Geist, Krieg stößt die Leiber, Tod reißt die Herzen.

Aufklärungshelle hat nur Sinn, wenn sie jenes Dunkle nicht verdrängt, das jeder Entwicklung beharrlich innewohnt und uns, in unserem Wahrheits- und Sittlichkeitsdrang, als beständiger Gefahrenschatten eingeschrieben bleibt. Davon schrieb Günther Rühle. Der Seher. Am Ende so bitter wie göttergleich behandelt: Er erblindete. Sah sich in einem Tagebuch, soeben erschienen, beim Hinüberwandern zu (»Ein alter Mann wird älter«, »nd« vom 30. November 2021). Nun ist er mit 97 Jahren in Bad Soden im Taunus gestorben.

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