Alltägliches Fluchen und intellektuelle Theorie

Alain Damasios Roman »Die Flüchtigen« ist nicht ganz einfach und ein außergewöhnlicher Science-Fiction-Roman

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 6 Min.

Science-Fiction-Romane werden von der Literaturkritik hierzulande nicht selten stiefmütterlich behandelt. Entweder sie erscheinen in Genre-Verlagen, was ihnen im hochkulturverliebten Literaturbetrieb den Nimbus von etwas popkulturell fast schon Anstößigem verleiht. Bestes Beispiel sind die Romane von Nnedi Okorafor, eine der wichtigsten Stimmen des Afrofuturismus, die hierzulande in einem Verlag herauskommen, der auf Mangas und Star-Trek-Bücher spezialisiert ist, obwohl ihre außergewöhnlichen Bücher auch gut ins Suhrkamp-Programm passen würden. Oder SF-Romane kommen im anerkannten Literatur-Verlag heraus, schrecken aber den einen oder anderen Kritiker ab, weil diese Art von meist deutlich über 500 Seiten starker Literatur anstrengend bei der Lektüre werden könnte und immer noch als etwas Randständiges wahrgenommen wird.

In diese zweite Kategorie gehört Alain Damasios außergewöhnlicher Roman »Die Flüchtigen« mit voluminösen 850 Seiten, der bei Matthes & Seitz erscheint, wo in diesem Herbst mit Dietmar Daths »Gentzen oder: Betrunken aufräumen« ein weiterer hochkarätiger und nicht ganz einfacher literarischer SF-Roman im Programm ist. Der Berliner Verlag hatte aber auch schon in der Vergangenheit etwa mit der Veröffentlichung von Mark von Schlegells Büchern einen guten Riecher für avantgardistische fantastische Literatur bewiesen.

Wobei Alain Damasio in Frankreich bereits so etwas wie ein literarischer Star ist, dessen in hohen Auflagen verkaufte Bücher vor allem unter jüngeren Lesern Kultstatus besitzen. Sein dritter Roman »Die Flüchtigen«, ein Science-Fiction-Roman über Kämpfe und Aufstände in einem dystopischen Frankreich des Jahres 2040, ist nun der erste Titel dieses Autors, der auf Deutsch erscheint. Der 1969 in Lyon geborene Damasio, der sein Hochschulstudium abgebrochen hat und stattdessen Autor wurde, arbeitet außerdem noch als Scriptwriter, Spieleentwickler und hat zusammen mit dem Komponisten Yan Péchin sogar einen Soundtrack zu seinem Roman »Die Flüchtigen« herausgebracht.

Im Zentrum der ausschweifenden Erzählung geht es um ein verschwundenes vierjähriges Kind. Tishka ist eines Morgens plötzlich nicht mehr da. Wurde sie entführt? Oder wurde sie, wie Hinweise nahelegen, von geheimnisvollen Wesen, den Fluchsen oder Flüchtigen mitgenommen, einer hybriden Spezies, die sich mit rasender Geschwindigkeit fortbewegt und optisch in der Lage ist, mit dem Raum zu verschmelzen? Ihre Eltern, Lorca und Sahar Varese, zwei politische Aktivisten, versuchen alles, um ihre Tochter wiederzufinden, und der Vater, erklärter Feind von Staat und Kapital, schließt sich sogar einer Armee-Einheit an, die Jagd auf die Fluchse macht - vergebens.

Alain Damasio entwirft eine spätkapitalistische Dystopie als digital vernetzte, alle Lebensbereiche durchdringende kontrollbasierte Konsumgesellschaft, in der fast alle Menschen mittels eines Ringes an ein Netz angeschlossen sind. Die meisten Städte sind privatisiert. So gibt es Nestlyon, Paris-LVMH; und Orange, wo ein Hauptteil der Handlung angesiedelt ist, gehört einem Telekommunikationskonzern gleichen Namens. Je nach Status - ob Platin, Standard oder ringlos - haben Menschen das Recht, bestimmte Räume und Gebäude der radikal segmentierten Städte zu nutzen oder eben auch nicht.

Dagegen regt sich natürlich Widerstand, sodass in »Die Flüchtigen« auch gleich eine ganze Reihe radikaler und überaus militanter Kommunarden- und Recht-auf-Stadt-Bewegungen in Szene gesetzt werden. Das »Firmament« besteht aus Traceuren, die sich akrobatisch über den Dächern der Stadt bewegen und diese dann auch besetzen. Die »Traverse« organisiert große Besetzungen, um »Selbst Organisierte Zonen« (SOZ) zu kreieren. Dabei wird brachial gegen private Milizen und staatliche Polizeitruppen gekämpft, die mit fliegenden und spinnenartigen Drohnen, Betäubungsgasen sowie lähmenden Giften und Tasern brutal gegen diese Bewegungen vorgehen. Es wird geräumt, besetzt, wieder geräumt und wieder besetzt.

Es gibt aber auch noch die auf dem Wasser kämpfenden Korsaren, die ökologisch orientierten Erdlinge und jede Menge Kommunarden, die unter anderem auf kleinen Inseln im Rhone-Delta leben und Subsistenz-Landwirtschaft betreiben. Egal ob Sahar ein autonomes Seminar über die Geschichte der Besetzungen ohne Lehrberechtigung in einem sonst komplett privatisierten Bildungsbereich auf der Hakim-Bey-Plaza abhält oder das »Firmament« wieder mal das Dach eines Hochhauses besetzt, woran sich Lorca beteiligt - Alain Damasio inszeniert die militanten Kämpfe der nahen Zukunft mit enormer Wucht und einer literarischen Detailliebe und Virtuosität, die ihresgleichen sucht.

Inmitten dieser nicht abreißenden Auseinandersetzungen suchen Lorca, der früher Mediator für Kommunen war, und die gerade mal wieder mit dem Gesetz in Konflikt geratene Sahar nach ihrer Tochter. Bei ihren Recherchen treffen sie auf Esoteriker, die behaupten, Kontakt zu den Flüchtigen zu haben. Eine wissenschaftliche Zelle in der Provinz ist darauf spezialisiert, die geheimnisvollen Botschaften der nie sichtbaren Fluchse zu lesen. Und ein berühmter klandestin lebender Philosoph, der als einer der führenden Köpfe des antikapitalistischen Widerstands gilt, ist sogar mit einem Flüchtigen befreundet.

Die Flüchtigen sind Wesen in der Größe von Katzen oder Hunden, die sich fortwährend verändern, Teile ihrer Umwelt assimilieren, sich jeder Sichtbarkeit und Erfassung in dieser so auf Kontrolle versessenen Gesellschaft entziehen und tot zu Stein erstarren (oder keramifizieren, wie es heißt), sobald jemand sie ansieht. Wie lange diese Wesen schon unter den Menschen leben und welche Rolle sie für die Evolution spielen, bleibt unklar. Schließlich finden Lorca und Sahar sogar ihre stark transformierte Tochter, die mittlerweile einen Flügel, Fell und auch schuppige Haut hat.

Die Suche nach ihr wird aber im Lauf der Zeit zu einem Politikum, denn die zuvor nur als urbane Legende bekannten Flüchtigen werden im Zuge eines Präsidentschaftswahlkampfs zur großen Bedrohung hochstilisiert. Es entsteht sogar eine Partei der Flüchtigen, der auch Sahar und Lorca angehören. Schließlich solidarisieren sich die geheimnisvollen Wesen mit den herrschaftskritischen Bewegungen, die überdies die bisher den Reichsten vorbehaltene Mittelmeerinsel Porquerolles besetzen, um die eine riesige Schlacht entbrennt, die einige Zeit später beim Aufstand in Marseille zum großen Showdown führt.

Alain Damasio, der dieses Jahr zu Gast beim Internationalen Literaturfestival in Berlin war, schraubt eifrig am Textbild seines aus gut einem Dutzend verschiedener Perspektiven erzählten Romans herum, sodass jede Erzählstimme mit Sonderzeichen wie Cedillen oder Buchstabenkürzeln personalisiert wird. Dabei wird ebenso viel umgangssprachlich geflucht wie intellektuell über linke Theorie diskutiert. Die besonderen Herausforderungen für Milena Adam, die Übersetzerin dieser Prosa, dokumentiert ein vom Verlag verlinktes Journal. Dieses außergewöhnliche Buch, das Elemente der Science-Fiction, der Politliteratur, der Fantasy, des Krimis und Abenteuerromans vereint und dabei ebenso etwas von Thomas Pynchon, Nanni Balestrini, Michel Foucault und Gilles Deleuze hat, gehört zweifelsfrei zum Faszinierendsten, das die linksradikale und herrschaftskritische Science-Fiction derzeit zu bieten hat.

Alain Damasio: »Die Flüchtigen«, Matthes und Seitz, 835 S., geb., 28 €.

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