Vom Beugen der Regel

Wie die Schuldenbremse der Politik im Weg steht – und warum sie dennoch weiter gelten soll

Die Infrastruktur in Deutschland verfällt, Investitionen sind nötig. Doch die Schuldenbremse fesselt die Staatsfinanzen.
Die Infrastruktur in Deutschland verfällt, Investitionen sind nötig. Doch die Schuldenbremse fesselt die Staatsfinanzen.

Die Ampelkoalition hat diese Woche ihren zweiten Nachtragshaushalt 2021 vorgelegt, und der sorgt für Aufregung. 60 Milliarden Euro will sie sich leihen, um damit einen Fonds aufzustocken, der in den nächsten Jahren Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung finanzieren soll. Die Union wittert einen Verstoß gegen die Schuldenbremse und damit Verfassungsbruch. Die Koalition versucht, die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens zu belegen und damit sowohl ihren Haushalt wie auch die Schuldenbremse zu retten. Der Streit zeigt, was für Probleme sich auftun bei dem Projekt, finanzielle Stabilität per Gesetz zu erlassen.

Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen die Vorgaben der Schuldenbremse. Beschlossen wurde sie 2009 im Nachgang zur großen Finanzkrise. Damals hatte die Bundesregierung Milliarden an Krediten aufgenommen, um ihren Finanzsektor und die Wirtschaft zu stützen. Mit der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse erlegte sie sich eine Selbstbeschränkung auf: Künftig sollte in normalen Zeiten nur noch eine Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erlaubt sein. Adressat dieser Maßnahme waren zum einen die anderen Euro-Länder, die sich ebenfalls derartige Beschränkungen auferlegen sollten und dies auch taten. Zum anderen diente die Schuldenbremse als Versprechen an die Finanzmärkte, dass Deutschland und der Rest der Euro-Zone solide Schuldner bleiben würden.

Diese rechtliche Vorgabe leidet allerdings – ähnlich wie der Euro-Stabilitätspakt oder die Schuldenobergrenze in den USA – immer daran, dass ein Staat gerade in ökonomisch schlechten Zeiten unter Umständen nicht sparen sollte, sondern im Gegenteil höhere Schulden machen muss, um gegen die Krise anzugehen. Das wussten die Väter und Mütter der Schuldenbremse auch und genehmigten daher Ausnahmen: In besonderen Notsituationen darf die Schuldenbremse ausgesetzt werden.

Solch eine Notsituation trat durch die Corona-Pandemie ein. Eigentlich hätte die Schuldenbremse für 2020 bloß eine Neuverschuldung von zehn Milliarden Euro erlaubt. Wegen der Krise aber durfte die Regierung 130 Milliarden aufnehmen. Mit Verweis auf die anhaltende Notlage genehmigte der Bundestag für 2021 sogar Nettokredite von 240 Milliarden. Ab 2023 jedoch, so die Zusage der alten wie der neuen Regierung, soll die Schuldenbremse wieder gelten.

Und damit ist man beim aktuellen Problem. Von den genehmigten Krediten über 240 Milliarden für das laufende Jahr werden nur 180 Milliarden Euro gebraucht. Die ungenutzten Kreditermächtigungen über 60 Milliarden Euro, die für die Pandemiebekämpfung gedacht waren, will die Ampelkoalition in einen Fonds stecken, mit dem sie in den nächsten Jahren in Klimaschutz und die Transformation der Wirtschaft investiert. Dadurch hätte sie zusätzliche Mittel für die Zeit, wenn das Grundgesetz keine erhöhte Schuldenaufnahme mehr zulässt. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sprach von einem »Booster« für die Volkswirtschaft.

Die Kritik an diesen Plänen ist nun keine ökonomische, sondern eine juristische: Das Vorgehen der Ampelkoalition sei schlicht nicht erlaubt. »In der Krise geschaffene Kreditermächtigungen dürfen nicht einfach umfirmiert werden, sie stehen nicht für beliebige Zwecke zur Verfügung«, sagte der ehemalige Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof. Sprich: Über die Vorgaben der Schuldenbremse hinausgehende Kredite sind nur erlaubt, um die aktuelle Krise zu bekämpfen. Werden mit ihnen dagegen künftige Investitionen finanziert, »fehlt dann der Zusammenhang zur Notsituation«, so Bundesrechnungshof-Präsident Kay Scheller. Zudem dürften Kreditermächtigungen nur für das Jahr genutzt werden, für das sie beschlossen worden seien.

Die Ampelkoalition bemüht sich nun, einen Zusammenhang zwischen ihren künftigen Ausgaben und der aktuellen Notsituation herzustellen. So würden mit den zurückgelegten 60 Milliarden Euro »Investitionen finanziert, die wegen der Pandemie ausgeblieben sind«, erklärte Lindner. Der Ökonom Tom Krebs, der im wirtschaftspolitischen Beirat der SPD sitzt, legitimiert die 60-Milliarden-Rücklage damit, dass »in den kommenden Jahren immer noch Ausgaben anfallen, die durch die Pandemie unmittelbar verursacht wurden«. Daher »erscheint eine Rücklagenfinanzierung der entsprechenden Ausgaben verfassungskonform«.

Die Opposition wiederum lässt diese Argumente nicht gelten. Sie verweist darauf, dass der Klimafonds bereits jetzt 30 Milliarden Euro zur Verfügung habe. Daneben könne die Regierung weitere knapp 50 Milliarden Euro an Reserven nutzen. Eine Aufstockung des Fonds sei daher nicht zu rechtfertigen. Die Union hat diese Woche angekündigt, gegen den Nachtragshaushalt der neuen Regierung vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Eine Normenkontrollklage sei notwendig, um überprüfen zu lassen, »ob ein Umgehungstatbestand vorliegt«, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am Mittwoch.

Wie der Rechtsstreit ausgeht, ist offen. Er zeigt allerdings schon heute die Flexibilität, mit der die Politik in Finanzierungsfragen agiert. So wurde in den vergangenen Wochen vielfach vor einem Finanzminister Christian Lindner gewarnt. Dieser hatte vor der Wahl sich mit dem Versprechen profiliert, Deutschland werde ein Hort »stabiler Staatsfinanzen« bleiben, was ihm als Wille zur Sparsamkeit ausgelegt wurde. Der britische Historiker Adam Tooze warnte daher vor Lindners »konservativen Klischees einer vergangenen Ära«. In der griechischen Presse war zu lesen, Linder sei »härter als Schäuble«.

Doch nun ist der FDP-Politiker selbst im Visier der Spar-Fraktion. »Seit er aus der Opposition in die Regierung gewechselt ist, erlebt die Öffentlichkeit einen völlig veränderten Christian Lindner«, schreibt die wirtschaftsliberale FAZ. Mit ihrem Haushalt »malträtiert« die Ampelkoalition »das Grundgesetz in einem Maße, dass einem angst und bange wird«. Auch die CDU spricht von »Verfassungsbruch«. Allerdings ist die schwarz-rote Regierung im vergangenen Jahr ähnlich vorgegangen wie die Ampel heute, als sie 26 Milliarden Euro aus ihrem Haushalt in den Klimafonds verschob. Damals war es FDP-Politiker Christian Dürr, der dies als »Verstoß gegen das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« rügte.

Derartige »Verrenkungen« (FAZ) sind Folge der Zwickmühle, in der sich Politiker*innen befinden. Einerseits werden Investitionen in die Transformation der Wirtschaft als notwendig erachtet, auch die Kritiker der Ampelkoalition bezweifeln nicht ihren Sinn. Andererseits wird die Rechtmäßigkeit der dafür notwendigen Kredite angezweifelt. Damit steht die Schuldenbremse dem entgegen, was ökonomisch sinnvoll wäre, weswegen ihre Vorgaben gebogen werden – ähnlich wie im Fall des Euro-Stabilitätspakts oder des Euro-Wiederaufbaufonds NGEU, mit dem »geltende Fiskalregeln implizit aufgeweicht« werden, so die Gemeinschaftsdiagnose der führenden deutschen Wirtschaftsinstitute.

Damit bleibt die Frage, warum die Schuldenbremse nicht abgeschafft wird? Der ökonomische Grund dafür dürfte darin liegen, dass »ein Bruch der Schuldenbremse bei den Bürgern zu einem Vertrauensverlust führen würde«, so Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Mit den »Bürgern« sind hier vor allem die Akteure an den Finanzmärkten gemeint, denen die grundgesetzliche Selbstverpflichtung des Staates Sicherheit für ihre Kredite versprechen soll.

Aber auch politisch hat die Schuldenbremse einen Nutzen. Sie dient der jeweiligen Opposition als Einspruchstitel bei der Finanzplanung der Regierung. Gleichzeitig dient sie der Bundesregierung als Einspruchstitel gegenüber den Haushalten der anderen Euroländer. »Wenn Finanzjonglage zum deutschen Finanzmodell wird, werden viele andere das nachahmen«, sagte Dobrindt (CSU) diese Woche: »Damit würde der EU-Stabilitätspakt gefährdet.« Die Schuldenbremse ist ein Instrument, bei Bedarf Druck auf andere Eurostaaten auszuüben.

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Schuldenregeln sind daher eine Form der »autoritären Stabilisierung«, die auch nach innen, also gegenüber der eigenen Bevölkerung funktionieren kann. Denn wenn dereinst wieder vermehrt gespart werden soll, kann die Regierung dies mit den Zwängen der Schuldenbremse, also quasi mit einem Sachzwang begründen. Kürzungen der staatlichen Konsumausgaben, etwa der Sozialausgaben, gelten dann nicht mehr als kritisierbare politische Beschlüsse, sondern schlicht als alternativlose Folge der Rechtslage. Solch eine Strategie könnte schon bald wieder Anwendung finden, denn »höhere Investitionen werden zwangsläufig auf Kosten der Konsummöglichkeiten gehen«, so die Gemeinschaftsdiagnose.

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