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Sozialismus, aber in grün
Klaus Dörre entwickelt die Utopie einer »nachhaltigen Revolution«, die von den Gewerkschaften und der Klimabewegung getragen werden soll.
Die orthodoxe Linke hat die ökologische Krise, ganz ähnlich wie das Geschlechterverhältnis, lange beiseitegeschoben. Oder gleich komplett ignoriert, beide Themen galten einfach als »Nebenwiderspruch«. Noch in den 70er Jahren und 80er Jahren, zur Zeit der großen Demonstrationen in Westdeutschland gegen den Bau von Atomkraftwerken, hieß es in diesen Kreisen, die AKWs in den Ländern des Warschauer Pakts seien viel sicherer als die kapitalistischen Meiler im Westen - doch dann kam der Reaktorunfall von Tschernobyl. Ökosozialistische Strömungen fanden sich damals, wenn überhaupt, bestenfalls bei den gerade gegründeten Grünen. Die »Fundis« um Jutta Ditfurth und Rainer Trampert wurden jedoch von den »Realos« bald ausgegrenzt und verließen die Partei. Im Osten schrieb Wolfgang Harich mit »Kommunismus ohne Wachstum« ein Plädoyer für einen ökologischen Sozialismus, es konnte 1975 aber nur im Westen veröffentlicht werden.
Mit dem Ende der DDR und der Sowjetunion war das »S-Wort« endgültig belastet, es geriet in Verruf, schreckte viele ab. Der Jenaer Soziologe Klaus Dörre macht jetzt den ehrgeizigen Versuch, eine moderne »Utopie des Sozialismus« zu entwerfen - unter dem Vorzeichen einer von ökologischen Zielen geprägten Wirtschaft. Sein neues Buch versteht sich als »Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution«. Im Unterschied zu den Klassikern Karl Marx und Friedrich Engels, so der Autor, formuliere er seine Gedanken »als Beamter auf Lebenszeit, ausgestattet mit einem Professorengehalt, aus einer privilegierten Position heraus und deshalb mit geringem Risiko«. Dörre will den Kampf gegen die globale Erwärmung mit der sozialen Frage zusammendenken und so gegen die ökonomisch-ökologische »Zangenkrise« angehen. Nachhaltiges Handeln müsse »den Zwang zu immer neuen Landnahmen« brechen, der im kapitalistischen Besitz als Strukturprinzip angelegt ist, postuliert er: »Eine Gesellschaft, die dieses Prinzip auf demokratische Weise überwindet, kann nur eine sozialistische sein.«
Jenseits des Wachstums
In der Einführung unternimmt Dörre eine »Selbstverortung«. Er beschreibt, für einen Wissenschaftler eher ungewöhnlich, seine eigene politische Sozialisation. Geboren 1957 in dem kleinen nordhessischen Dorf Volkmarsen-Külte, wurde er Teil der »Post-68er«-Linken in der alten Bundesrepublik, profitierte von verbesserten Bildungschancen, stieg aus einfachen Verhältnissen auf. Nach dem Abitur studierte er an der Universität Marburg, promovierte bei dem Politikwissenschaftler Frank Deppe, engagierte sich im DKP-nahen Marxistischen Studentenbund Spartakus. Der MSB war im beschriebenen Sinne dogmatisch, mit der Ökologie hatte er nicht allzu viel am Hut. 40 Jahre später, in einer völlig anderen politischen Konstellation, propagiert Dörre nun einen nachhaltigen, erneuerten Sozialismus - auf der Grundlage »radikal veränderter Gesellschafts-Natur-Beziehungen«, wie es im Umschlagtext des Buches heißt. Im 21. Jahrhundert stehe dieser Begriff »für die Suche nach einer Notbremse, die einen Zug zum Halten bringt, der mit Hochgeschwindigkeit auf den Abgrund zurast«. Zu »den Kräften progressiver Veränderung« zählt er dabei ausdrücklich auch jene, die sich »im De- oder Post-Growth-Spektrum verorten und ihre Wurzeln bevorzugt im Kosmos anarchistisch-libertärer Ideen suchen«.
Das über 300 Seiten starke Werk, vom Verfasser bescheiden und tiefstapelnd als »kleines Buch« oder »Essay« bezeichnet, ist das Ergebnis intensiver Diskussionen in der Kollegforschungsgruppe Postwachstumsgesellschaft an der Universität Jena. So offenherzig Dörre in der Einleitung über seine Biografie berichtet, so versteckt ist einem kurzen Post Scriptum am Ende zu entnehmen, dass es in der akademischen Runde zu tiefgreifenden Kontroversen kam: »Wir haben uns gestritten, dabei aber das Ziel verfolgt, bei Deutungen und Handlungsempfehlungen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.« Bei der Abschlussdokumentation wollte Dörre eigentlich mit seinen renommierten Kollegen und Mitinitiatoren Hartmut Rosa und Stephan Lessenich kooperieren. Das gelang offenbar nicht, unter anderem, weil diese Schwierigkeiten hatten mit der von ihm favorisierten Herausstellung des Begriffs »Sozialismus«. So wurde der ursprünglich zusammen anvisierte »Kompass« zum wissenschaftlichen Alleingang.
Soziale und ökologische Frage
Die Verknüpfung von Ökologie, Feminismus, Antirassismus und Kapitalismuskritik ist ein Dauerbrenner aktueller linker Selbstverständigungsdebatten. Doch es gibt blinde Flecken auf allen Seiten. Die jungen Fridays-for-Future-Demonstrant*innen, oft aus saturierten bürgerlichen Elternhäusern stammend, sind nicht gerade für ihre sozialpolitische Sensibilität bekannt. Die Jobperspektiven von Braunkohlearbeitern im rheinischen Revier oder in der Lausitz sind ihnen weitgehend gleichgültig. Klaus Dörre fordert deshalb einen »Labour turn« bei den Klima-Aktivist*innen - und umgekehrt einen »Climate turn« bei bisher auf die Erwerbsarbeit fixierten Gewerkschaften und linken Gruppen. Er schildert ein für ihn ermutigendes Erlebnis im überfüllten Audimax der Universität Leipzig im Mai 2019, wo er an der Gründung der Organisation Students for Future teilnahm: »Auf die an das Publikum gerichtete Frage, ob die klimapolitisch gebotene Nachhaltigkeitsrevolution innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sei, antwortet ein vielstimmiges ›Nein!‹ Der Vorschlag, große Konzerne wegen ihrer Blockadehaltung gegenüber Klimazielen zu sozialisieren, erhält tosenden Applaus.« Einigen Veranstalter*innen, so berichtet Dörre weiter, stand deshalb »der Schrecken ins Gesicht geschrieben«, ihnen wären »weniger radikale Statements lieber gewesen«.
Ob die Vollversammlung, dem Autor zufolge ein »grandioser politischer Erfolg«, in westdeutschen Universitätsstädten wie Göttingen, Heidelberg oder Münster ähnlich abgelaufen wäre oder ob in Leipzig bei den dort Studierenden doch das realsozialistische Erbe des deutschen Ostens nachwirkte, darüber lässt sich nur spekulieren. Die Euphorie Dörres über »neue politische Allianzen« von Öko-Bewegten etwa mit den Tarifkämpfen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wirkt sympathisch und ansteckend, dass diese aber in der Breite gelingen und tatsächlich relevanten Einfluss nehmen können, ist ungewiss.
Bündnisse mit Widersprüchen
Von einem »Labour turn« unter demonstrierenden Baumhausbewohner*innen im besetzten Hambacher Forst war an der Abbruchkante wenig zu spüren, eher wurden die im Tagebau Beschäftigten beschimpft oder gar körperlich attackiert. »Einige Akteure des militanten Flügels vom Bündnis Ende Gelände, die jede Art von Wirtschaftswachstum ablehnen, betrachten selbst die Besatzungen der Förderbrücken im Kohlerevier als feindliche Gruppierungen, die symbolischen Besetzungsaktionen im Wege stehen und mit ihrer Berufstätigkeit gezielt am Ruin des Planeten arbeiten«, beschreibt Dörre plakativ seine Erfahrungen in Brandenburg. Umgekehrt ist das Verständnis ebenso begrenzt: Die meist älteren politisch Verantwortlichen eines Landes, in dem immer mehr Menschen im Rentenalter sind und Wahlen entscheiden, interessieren sich leider nur bedingt für die sich zuspitzenden Lebensbedingungen der heutigen Jugend in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Daran dürfte auch die neue Regierungskoalition nichts Wesentliches ändern.
Trotz solcher Spaltungen und gegensätzlichen Interessen gibt es Verbindungen zwischen den scheinbar so konträren Milieus - die allerdings eher beängstigend sind. Nämlich Ähnlichkeiten im öffentlichen Auftritt: Der Absolutheitsanspruch von Klimakämpferinnen wie Luisa Neubauer oder Greta Thunberg (»I want you to panic!«) erinnert an die Allmachtsfantasien ideologisch eingemauerter linker Kader von einst. So wächst die Gefahr eines totalitären »Öko-Leninismus« nach dem Muster der sowjetischen Kriegswirtschaft von 1920, vor dem auch Dörre in seinem Buch als Krisenbewältigungsstrategie dezidiert warnt. Schon beim Umgang mit dem Coronavirus fiel und fällt immer noch auf, wie vorbehaltlos Grüne (und auch Teile der Linkspartei) dirigistische »Schutzmaßnahmen« und die damit verbundenen Verbote und Beschneidungen bürgerlicher Grundrechte unterstützen. Die weitgehend fehlende Kritik - und der damit verbundene Glaube an einen entschlossen dekretierenden Staat - lässt Böses ahnen für die willige Akzeptanz von autoritären Regierungsmethoden, mit deren Hilfe künftige (und sehr wahrscheinliche) Klimakatastrophen gemanagt werden könnten.
Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine nachhaltige Revolution. Matthes & Seitz Berlin, 345 S., geb., 24 €.
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