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- Armut in Marzahn
Hunger nach Gemeinschaft
Die ehrenamtlichen Helfer einer Ausgabestelle für Lebensmittel an Bedürftige in Marzahn sehen sich als verschworene Gruppe
Mandy Herrmann wuchtet die schweren Lebensmittelkisten mit erstaunlicher Leichtigkeit hin und her. Dann steht sie wieder an ihrem Platz und verteilt Obst und Gemüse an ihre Kunden: junge Menschen mit vielen Tattoos, Rentner, Deutsch-Russen, Geflüchtete. Sie alle eint, dass das Geld, das sie monatlich zur Verfügung haben, vorne und hinten nicht reicht. Dass sie auf Hilfsangebote angewiesen sind.
Herrmann ist eine von insgesamt 53 Ehrenamtlichen, die Woche für Woche in der Lebensmittel-Ausgabestelle des Projekts »Laib und Seele« an der Schwarzburger Straße in Berlin-Marzahn mit anpacken. Im Hauptberuf verkauft Herrmann Wurst und Pommes im Einkaufszentrum »Eastgate« am S-Bahnhof Marzahn. Wann immer es ihr Schichtplan erlaubt, steht sie hier an ihrem Platz: in einem kleinen Saal mit niedriger Decke, voll mit Kartoffel- und Kohlkopfkisten - und einem Altar samt Kruzifix. Ein Kirchenraum, der einst ein Kindergarten war. Über dem Altar hängt ein großer Adventskranz mit roten Bändern von der Decke. Den Kranz hat Herrmann selbst gebunden.
Von Ehrenamtlichen wie Herrmann lebt »Laib und Seele«. Das Projekt der Berliner Tafeln in Zusammenarbeit mit den Kirchen und dem RBB existiert seit 2004, kurz vor Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze. Inzwischen gibt es berlinweit 46 Ausgabestellen von »Laib und Seele«. Gegen einen kleinen Obolus - zwei Euro pro Erwachsenem, ein Euro pro Kind - können Bedürftige dort in der Regel einmal die Woche die aus Spenden von Supermärkten stammenden Lebensmittel abholen. Allein, im Marzahner Norden mit seinen vielschichtigen sozialen Problemen reicht das nicht.
Der Bedarf wurde mit der Zeit so groß, dass die Besucher aus der Umgebung irgendwann in zwei Gruppen geteilt wurden, die sich nun an zwei Tagen der Woche in die Schlange vor dem Mehrzweckgebäude an der Schwarzburger Straße einreihen: Die mit A bis K beginnenden Nachnamen an dem einen Tag, die mit L bis Z beginnenden an dem anderen. Heute werden rund 280 Haushalte versorgt, 2014 waren es sogar fast 400 Haushalte. Die große Kühlanlage nimmt im Kirchengebäude viel Platz ein. Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Ausgabe bildet sich am Eingang eine Schlange von Wartenden.
Essen und beten
Betrieben wird die Ausgabestelle von der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, kurz: SELK, einer betont konservativen christlichen Kirche mit deutschlandweit über 30.000 Anhängern. Kritiker sagen: eine Kirche mit Hang zum Fundamentalismus. Zur Anfangszeit der Ausgabestelle von »Laib und Seele« in Marzahn-Nord, als die SELK erst rund 60 Haushalte versorgte, versammelten sich auch noch alle Kunden im Hof und hörten der Andacht des damaligen Pfarrers zu. Unter seinem Nachfolger wird der Gottesdienst nur sonntags abgehalten, also von der Lebensmittelausgabe getrennt.
Frank Bielefeldt, Leiter der SELK-Stelle, ist von Anfang an dabei. Der Berliner war nach der Wende nach Westdeutschland gezogen. Eine Zeit, in der er auch persönlich Not erlebte. Als er die Anzeige für die ehrenamtliche Leitung der »Laib und Seele«-Stelle 2005 las, bewarb er sich. Er wollte etwas zurückgeben. Heute lebt er in Marzahn und ist im SELK-Kirchenvorstand aktiv. Erst nach der Wende, sagt Bielefeldt, sei ihm bewusst geworden, dass vieles in der DDR für die Menschen gut eingerichtet war. Die Betriebskultur der Ausgabestelle habe viel von früher.
Pfarrer Kirsten Burghard Schröter gibt zu, dass das für das Selbstverständnis seiner Kirche so wichtige Missionieren von Menschen in Marzahn nicht leichter geworden ist. »Wir können die Menschen nicht von null auf hundert bringen. Eher gibt es schon einen vorhandenen Bezug - eine Großmutter war religiös, oder man hat in Russland die Kirche besucht -, bevor die Leute bei uns in den Gottesdienst kommen.«
Es sei das Bedürfnis nach Essen, das die Leute in das Haus an der Schwarzburger Straße treibe, sagt Schröter. »Eine alte Frau hat mir gesagt, dass sie die Scham verlieren musste, ehe sie nach Hilfe suchte. Sie konnte sich Scham einfach nicht mehr leisten, weil sie essen musste.«
Wegen der Corona-Pandemie reichen die ehrenamtlichen Helfer die Lebensmittel inzwischen in Plastikkisten über den Tisch. Mandy Herrmann sagt, dass sie diese Lösung zunächst befremdlich fand. Aber so sei es etwas leichter, denn früher musste jeder sagen, was er wollte, und bekam es dann von Hand überreicht. Am Ende der Schicht war Herrmann oft heiser vom vielen Reden.
Jetzt wählen die Kunden die Lebensmittel selbst aus der Kiste aus. Ein alter Mann versucht, eine große Schale Blaubeeren auf seinem Wägelchen zu platzieren. Die Beeren rollen auf dem glatten Boden in alle Richtungen. Herrmann sammelt alles wieder auf. Und ohne viele Worte besorgt sie frischen Ersatz für den peinlich berührten Mann. Es ist die einfache Nachbarschaft, die Mandy Herrmann antreibt, die Solidarität, damit jede und jeder zu seinem Recht kommt.
Eine neue Aufgabe für Frührentner
Dass »Laib und Seele« so einen engagierten Helferkreis in Marzahn-Nord hat, liegt unter anderem daran, dass es auch hier ab den 90er Jahren immer mehr Frührentner gab, die nach einer Beschäftigung - und eben »der verlorenen DDR-Betriebskultur« - suchten und sie hier fanden.
Hier starrt niemand auf sein Handy. Stattdessen hört man auch die Berliner Schnauze: Wo gehobelt wird, wird berlinert. Hier entpuppt sich eine Provokation als ein Kompliment für eine Frau. Es ist dabei auch der Hunger nach Gemeinschaft, der die Helferinnen und Helfer antreibt. Seit Jahren bildet sich eine beständige Gruppe von Leuten in unbeständigen Zeiten, seit Corona sogar eine verschworene.
Am Anfang der Pandemie hatte man alle Helfer in diesem Saal zusammengetrommelt. Es wurde beraten, wie es weitergehen soll. Angesichts der Ungewissheit über die Gefahr des neuen Virus wurden die »Laib und Seele«-Ausgabestellen vorsichtshalber geschlossen. Nur in Marzahn-Nord entschied man, dass diese Filiale weiter offen bleiben sollte.
Jetzt, in der Adventszeit, sind viele Balkone an der nahen Mehrower Allee großflächig beleuchtet, Weihnachtslichter in bunten Farben, manche pulsierend blinkend. Auch die Helfer an der Schwarzburger Straße sind in Weihnachtsstimmung. Sie unterhalten sich über die festliche Beleuchtung des Tierparks in Friedrichsfelde. Es soll toll dort sein, aber 17 Euro pro Person müsse man zahlen, um das zu sehen!
Kinderbespaßung mit Johnny
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, die Kinder am wenigsten. Für die Zeit der Lebensmittelvergabe bietet »Laib und Seele« eine Kinderbetreuung im Hof an, in einem alten Bauwagen, der beheizt ist. An einem Ende hängen auch hier ein schlichtes Kreuz und Jesus-Bilder. Pfarrer Frederick Smith sagt, dass die Kirche Kontakt zu rund 700 Kindern hält. An diesem Nachmittag spielen vier Kinder im Bauwagen, noch einmal vier draußen mit Laienpfarrer Johnny.
Auf einem Brett im Bauwagen gibt es Spiele und Stifte. Eine Mutter sitzt im Wagen mit zwei Mädchen im Grundschulalter, beide dünn und quirlig, mit langen hellblonden Haaren. Die Frau erzählt von ihren Tieren, zurzeit beherbergt sie acht Katzen. Unter ihrer Lederjacke hält sie einen Chihuahua-Welpen, das ruhigste Wesen in der Runde, das sich aufmerksam umschaut. Der gebürtige Amerikaner Smith erklärt, die beiden Mädchen seien »intelligent, eigentlich zu intelligent«. Alles wollen sie wissen, gleichzeitig. Die Mutter entgegnet, dass sie an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leiden. Drei erwachsene Kinder hat sie außerdem.
Als Mutter und Kinder nach Hause gehen, kommt Johnny in den Bauwagen. Ein Mann mit großem Kopf und mächtiger Stirn, er schleppt sich schwer. Seinen Rollstuhl hat er draußen gelassen. Wenn in der Küche Essen übrig bleibt, isst er es gern. Heute gibt es Brot und ein Stück Wurst. Laienpfarrer Johnny und Ausgabenstellen-Chef Bielefeldt reden über die Preiserhöhung im nächsten Jahr bei »Laib und Seele«. Jeder Erwachsene und jedes Kind wird dann 50 Cent mehr bezahlen müssen. Unter anderem erzwingen gestiegene Strom- und Benzinpreise die Erhöhung.
Dann erzählt Johnny seine Geschichte. Er wurde in eine Eisenbahnerfamilie geboren. Auch seine Mutter war bei der Reichsbahn. Aufgewachsen ist er in Erkner, besuchte dann aber eine amerikanische Militärschule in Westberlin. Später wurde er Kleinlokführer. Und so kann er sich lange über Probleme des Schienensystems auslassen, die kürzlich zur S-Bahn-Entgleisung im Berliner Nord-Süd-Tunnel führten. »Diese Probleme bestehen seit der Olympiade 1936«, erklärt er. Johnny doziert: »Man kann mit diesen Problemen leben, muss man aber nicht.«
Johnny ist nicht nur in Marzahn anzutreffen, sondern auch bei einem Obdachlosentreff am Alexanderplatz. Auch dort werden jede Woche bis zu 100 Menschen mit Essen versorgt. Jetzt gönnt er sich selbst ein Abendbrot. Die Versorgung von Menschen sieht Johnny vor allem als technisches Problem, das lösbar ist. Mit Hunger, Kälte und Einsamkeit könne man leben. Muss man aber nicht.
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