- Politik
- Gefährliche Migrationsroute
Italien: Wieder mehr Flüchtlinge
Verschlechterte Lage in Afghanistan und Misere in Teilen Afrikas treibt Hunderttausende aus ihren Heimatländern
Es war die frohe Botschaft in der Nachweihnachtswoche: Am Dienstag durfte ein Schiff der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« im sizilianischen Hafen von Augusta anlegen. 558 Migranten, die aus Seenot gerettet worden waren, konnten nach einer Woche Umherirrens auf dem Meer endlich an Land gehen.
Draußen vor der Küste wartet noch die »Seawatch 3« auf die Erlaubnis, einen italienischen Hafen anlaufen zu dürfen. Erst zu Weihnachten hatte das Rettungsschiff der Berliner Organisation Sea-Watch nochmals 96 Menschen von einem Schlauchboot geborgen, unter ihnen eine im neunten Monat schwangere Frau und ein wenige Wochen altes Baby.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Weitere Flüchtlinge wurden von der italienischen Küstenwache aufgenommen. Sie befanden sich innerhalb der 80-Kilometer-Zone der italienischen Territorialgewässer. Die Flüchtlinge waren zuvor von einem Aufklärungsflugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex ausgemacht worden. Die Küstenwachboote der italienischen Marine brachten am Heiligabend 718 Flüchtlinge in den Hafen des kalabresischen Crotone.
Trotz des ungünstigen Wetters über dem Mittelmeer hält der Flüchtlingsstrom somit auch über Weihnachten und den Jahreswechsel unvermindert an. Dabei sind die Zahlen im Jahr 2021 gegenüber den Vorjahren bereits dramatisch gestiegen. Den Statistiken des italienischen Innenministeriums zufolge waren bis zum 29. Dezember 66 482 Flüchtlinge an den Küsten des Belpaese angelandet. Noch im Vorjahr waren es »lediglich« 34 134 Menschen, 2019 sogar nur 11 421, denen der gefährliche Weg übers Meer gelang.
Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind in diesem Jahr 1 864 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken - die Dunkelziffer dürfte jedoch um ein Vielfaches höher sein. Gerade in den unwirtlichen Monaten von November bis März/April steigt die Gefahr eines Kenterns der hochseeuntauglichen Wasserfahrzeuge erheblich - dennoch machen sich die Flüchtlinge, ein Viertel von ihnen kommt aus Tunesien, auf den riskanten Weg. An Gefährlichkeit wird er nur noch übertroffen von der langen Passage aus Syrien und der Türkei. Die Tatsache, dass die griechische Grenzpolizei alle aufgegriffenen Flüchtlinge in diese Länder zurückschickt, hat sich bei den Migranten inzwischen herumgesprochen. Hilfsorganisationen und UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR befürchten daher, dass sich mit weiterer Machtausübung der Taliban in Afghanistan und der damit verbundenen Einschränkung bürgerlicher Rechte der Flüchtlingsstrom auf dieser Route aus dem Nahen Osten noch verstärken wird.
Die gegenwärtige Flüchtlingssituation ist »eine Wirklichkeit, vor der wir nicht die Augen verschließen dürfen«, mahnte auch Papst Franziskus in seiner Generalaudienz am Mittwoch. »Viele unserer Brüder und viele unserer Schwestern sind einem unermesslichen Leid und Ungerechtigkeit ausgeliefert, dem sie durch Flucht zu entkommen suchen«, so das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche. Franziskus erinnerte an den Mut und den Leidensweg der Heiligen Familie, die unter der Führung Josephs vor Herodes aus Ägypten floh, in den Erzählungen des Neuen Testaments. Die heutige Flüchtlingssituation ist ein »sozialer und menschlicher Skandal«, erklärte der Papst. Viele Menschen - egal welcher Hautfarbe, welcher Religion oder politischer Überzeugung - seien auf der Flucht vor Krieg, den gesellschaftlichen und historischen Umständen oder auch aus persönlichen wirtschaftlichen Gründen. »Ihnen sollte unser Gebet, unsere Solidarität gelten«, forderte das Kirchenoberhaupt.
Dass die wiederholten Appelle des Papstes das Gehör der Politiker finden, ist eher unwahrscheinlich. Noch immer haben sich die Verantwortlichen in der EU nicht auf gemeinsame Lösungen in der Flüchtlingsfrage einigen können. Ihr Lavieren ermöglicht es den rechtsextremen Populisten und Nationalisten - wie in Italien Matteo Salvini von der Lega oder Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) - ihren flüchtlings- und ausländerfeindlichen Kurs weiter zu forcieren. Ausnahmen wie eine kürzlich beschlossene Erleichterung der Arbeitserlaubnis für Migranten sind da nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und sofern sich die Lage in den Ausgangsländern - auch unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft - nicht ändert, wird 2022 ein weiteres Jahr werden, in dem sich Flüchtlinge auf gefährliche Routen begeben müssen.
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