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Die Überwindung der Wirklichkeit

40 Jahre Poprevolution: 1982 gilt als das magische Popjahr - eine Legende in drei Teilen. Dritter und letzter Teil: Es lebe die Reizüberflutung!

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 7 Min.
Mehr ist mehr: Martin Fry von ABC
Mehr ist mehr: Martin Fry von ABC

»Little Chicago«: so hieß der Sheffielder Stadtteil Hyde Park in den 1930er Jahren. Die Zahl der Gewaltverbrechen war derart hoch, dass der Stadtrat beschloss, das Problem rustikal zu lösen: Man walzte die Slums einfach platt und errichtete einen monströsen Hochhausriegel. In einem dieser brutalistischen Wohnbunker lebte Martin Fry, wenn er nicht gerade in dem 20-stöckigen Arts Tower der Universität Sheffield englische Literatur studierte. Wie wirkt die Lektüre von Shakespeare in einem solchen Betonambiente? Martin Fry stand nicht so recht der Sinn danach. Lieber brachte er ein Fanzine namens »Modern Drugs« heraus, wofür er Musiker interviewte. Auch Mark White und Stephen Singleton, die 1977 die Gruppe Vice Versa gegründet hatten. Am Ende des Gesprächs war Fry neues Bandmitglied.

10 Popalben aus den frühen 80ern, ohne die die Welt öder wäre
Human League: »Dare«
Heaven 17: »Penthouse and Pavement«
ABC: »The Lexicon of Love«
Dexys Midnight Runners: »Too-Rye-Ay«
Scritti Politti: »Songs to Remember«
Simple Minds: »New Gold Dream«
Spandau Ballet: »True«
Nick Heyward: »North of a Miracle«
The Style Council: »Introducing The Style Council«
Culture Club: »Colour by Numbers«

Vice Versa machten elektronischen New Wave, in dessen Härte und Schärfe Punk nachhallte. Aber Fry wollte mehr. Als neuer Kopf der Band schlug er vor, sich umzubenennen. Aus Vice Versa wurden ABC. So dokumentierten sie den Anspruch, Grundlegendes zur Musikgeschichte beitragen zu wollen. Denn Fry strebte nach höheren Sphären. Er hatte in seinem Studium William Blake entdeckt, einen Romantiker und Visionär, dessen Ausspruch aus dem Jahr 1793, »If the doors of perception were cleansed, every thing would appear to man as it is, infinite« (»Würde man die Pforten der Erkenntnis reinigen, erschiene dem Menschen alles, wie es ist: grenzenlos«), Aldous Huxley zu dem Essay »The Doors of Perception« inspirierte, was wiederum einen gewissen Jim Morrison veranlasst hatte, seine Band The Doors zu nennen.

Auch Martin Fry war ein Visionär. Frei nach Blake, der im Künstler eine Verbindung zum Göttlichen sah, schwebte ihm ein Album vor, das sich über die Betonwüsten von Sheffield erhob. Nichts weniger als »The Lexicon of Love« wollten die Alphabetologen von ABC erschaffen. Größenwahn? Nicht, wenn man Martin Fry heißt. In einem Interview mit Kid P., dem Pionier des deutschen Popjournalismus (bürgerlich: Andreas Banaski), haute er auf die Pauke: »Du kannst alles haben, wenn du es willst. Wenn du hungrig bist. Ich glaube daran. Andernfalls kannst du dich gleich den Abfluss runterspülen.« Fry aber hatte keine Lust auf die Zumutungen und Erniedrigungen des täglichen Lebens. Lieber kaufte er auf dem Flohmarkt golden glänzenden Stoff und ließ daraus Anzüge für die Band anfertigen - bei dem ehemaligen Schneider von Marc Bolan (T. Rex). Wer mit dem Anspruch antrat, »ich will nicht 200, sondern 200 000, 2 Millionen, 2 Milliarden, 2 Trillionen Leute erreichen«, der musste auch optisch herausstechen.

In dem Produzenten Trevor Horn fand Fry einen Verbündeten für seine himmelhohen Ziele. Horn gelang es, modernste Synthesizertechnik mit orchestralen Streicherarrangements zu verbinden. Auf diese Weise klang das 1982 erschienene »The Lexicon of Love« zukunftsweisend und klassisch zugleich. Was Human League begonnen hatten, trieben ABC auf die Spitze: die Glamourisierung des Lebens. Es ging nicht länger darum, die graue Wirklichkeit abzubilden; sie musste überwunden werden. Frys Herzschmerzpathos und Horns »Wall of Sound«-Bombast erzeugten ein Kunstwerk, das vom Zuhörer nicht Interpretation, sondern Kapitulation erwartete - K.o. durch Reizüberflutung.

So wurden ABC die nordenglische Antwort auf Las Vegas. In der Glücksspielstadt ist alles per se Pop (wenn auch der abgeschmackten Art). In Sheffield hingegen, wo Punk und Dark Wave die naheliegenden Lifestyle- und Musikoptionen waren, erforderte es eine übermenschliche Willensanstrengung, sich die Paillettenanzüge überzustreifen und große Gefühle heraufzubeschwören: »Shoot that poison arrow through my heart!«

Das dazugehörige Video spielt vor einer Opernkulisse. Fry, der Ex-Punk, trägt Smoking. Eine Hausbesetzung der anderen Art. ABC okkupierten die Welt der Oberschicht - und setzten damit das fort, was die »Blitz Kids« 1979/80 begonnen hatten. Sie, die jugendlichen Besucher der Londoner Diskothek Blitz, hatten keine Lust mehr auf das destruktive »Macht kaputt, was euch kaputtmacht!« Ihnen standen Roxy Music und David Bowie näher als die Sex Pistols - Glam (Rock) statt Punk. In Sachen Kleidung, Frisuren und Make-up galt die Devise: Mehr ist mehr. Je schillernder und exaltierter, desto besser! Der androgyne Look ließ die Grenzen zwischen Frauen und Männern verschwinden.

In dieser Parallelwelt des Nachtlebens konnten sich Menschen, die man später in den Charts wiederfinden sollte, eine neue Identität zulegen. Hier, im Blitz, erlebten Boy George (Culture Club), Steve Strange (Visage), Siobhan Fahey (Bananarama), Martin Degville (Sigue Sigue Sputnik), Midge Ure (Ultravox), Tony Hadley, Martin und Gary Kemp (alle Spandau Ballet), wie befreiend es war, die Enge der alten Welt hinter sich zu lassen. Und da Mode und Musik schon immer Hand in Hand gingen, entstand eine neue Subkultur: die New Romantics.

Das mag unpolitisch klingen, ist es aber nicht. Gary Kemp kommt aus der Arbeiterklasse. Im Rahmen der Bewegung »Red Wedge« (roter Keil) unterstützte er 1986 die Labour Party. Denn er und sein Bruder Martin wissen, wie sich Elend anfühlt. Sie wuchsen in ärmlichsten Verhältnissen auf. Das Gemeinschaftsklo befand sich draußen und gewaschen wurde sich samstags in der Küchenspüle. Gary Kemp war sich bewusst, dass diese Welt den Bürgerkindern fremd ist. »Sie verstehen nicht, was Stil für die Arbeiterklasse bedeutet. Sie denken, es bedeutet Geld. Das ist aber nicht der Fall. Stil ist kulturelle Identität. Es ist ein hervorragendes Ventil für Frust. Schon immer haben Jugendliche das Wenige, was sie haben, für Platten und Frisuren ausgegeben - nie für Bücher von Karl Marx. Eine der schwierigsten Aufgaben ist es daher, Journalisten aus der Mittelschicht zu erklären, was Stil ist, weil sie Stil immer mit Bourgeoisie verbinden und ihr ganzes Leben damit zubringen, dem zu entkommen.«

Dem Arbeiterkind Gary Kemp sind solche Gedanken fremd: »Ich fühle mich nicht schuldig, weil ich genug Geld verdient habe, um ein eigenes Haus zu besitzen. Diese Art von Schuldgefühlen hat nur die Mittelschicht.« Und mit einem Mal sieht man die New Romantics mit anderen Augen - als kulturelle Bewegung mit hochpolitischem Kern.

Doch wie so viele Bewegungen ging sie an ihrem eigenen Erfolg zugrunde. Schon Kurt Tucholsky hatte erkannt: Wenn eine Idee populär wird, dann bleibt die Popularität, die Idee geht zum Teufel. Was bei Spandau Ballet und Culture Club noch Ausdruck eines Aufstiegs- und Befreiungskampfes war, verkam bei den Mittelschicht-Kids von Duran Duran zu hohlem Hedonismus. Frisuren und Kleidung waren ähnlich, doch die Haltung dahinter eine andere. Die Jungs von Duran Duran wollten Popstars werden, um mit Models zu schlafen und viel Geld zu verdienen - Designerdrogen sind teuer. Deshalb klingt ihre Musik immer einen Tick zu protzig und aufgeblasen und schmiert am Ende unvermittelt ab. Wie ein Sportwagen, dem bei Vollgas der Sprit ausgeht, oder einem Popstar das Kokain.

So wurde der glorreiche Pop der frühen 80er sehr bald zur Soundkulisse, zur Klangtapete für Szenecafés und Boutiquen. Doch wer genau hinhörte, entdeckte zwischen den Stapeln an Konfektionsware auch weiterhin herausragende Einzelstücke. Die Stranglers unterlegten ihre gewohnt bösen Texte auf »Aural Sculptures« (1984) mit zarten, himmlisch schönen Melodien. Produzent Trevor Horn setzte sich im gleichen Jahr mit Frankie Goes to Hollywood ein weiteres, noch bombastischeres Denkmal. Martin Fry sorgt mit ABC bis heute für majestätische Popsongs. Sein Versuch im Jahr 2016, mit »The Lexicon of Love II« die alte Magie wieder heraufzubeschwören, gelang erstaunlich gut. Hier passt die Formulierung »in Würde gealtert«.

Ja, selbst Kevin Rowland schaffte nach viele Problemen mit seinen Dexys 2012 ein Comeback. Vielleicht, weil die Helden von einst die Botschaft des Human League-Klassikers »Keep feeling fascination« verinnerlicht haben: »Hör nie auf, die Faszination zu spüren! Die Leidenschaft brennt, die Liebe ist so stark. Hör nie auf, die Faszination zu spüren! Schau hin, lern und dann zieh weiter!«

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