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Chinesischer Alb, deutscher Traum
Was bei den Rückblicken auf 2021 untergegangen ist: Das Videospielverbot in China - eine Würdigung
Berichten deutsche Medien über China, sind sie in der Regel sehr besorgt - um den Weltfrieden, die Weltwirtschaft oder das Weltklima. Im Spätsommer zeigten sie sich äußerst besorgt um das Wohlergehen der chinesischen Jugend: »China reduziert Spielzeit für junge Gamer«, titelte das ZDF, »Chinesische Regierung erteilt der Jugend Videospielverbot«, klagte der Bayerische Rundfunk, und die FAZ wurde poetisch: »Kommunistische Zensur im Reich der Fantasie«. Was war passiert? Mit Beginn des Herbstes durften Kinder und Jugendliche im Reich der Mitte von Montag bis Donnerstag nicht mehr online zocken. Freitags, am Wochenende und an Feiertagen kann jeweils nur eine Stunde im Internet gedaddelt werden. So weit, so schlecht.
Die chinesische Parteiführung hat im Zuge des Herbstes noch weitere neue Vorschriften für die Videospielindustrie eingeführt. Spiele seien nun nicht mehr als reine Unterhaltung zu betrachten, sondern ähnlich wie Kunst zu behandeln. Weshalb Referenzen zu Geschichte, Gesellschaft und zum menschlichen Dasein in Zukunft sicherstellen sollen, dass die Jugend auch beim Zocken die richtigen Werte vermittelt bekommt. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua sollen die Neuregelungen darüber hinaus »die physische und mentale Gesundheit von Minderjährigen schützen«. Man wolle einerseits der »Videospielsucht der Jugend« entgegentreten, andererseits beruft man sich auf den Auftrag, »die Kultivierung der jungen Generation in der Ära der nationalen Erneuerung« voranzutreiben.
Im Rahmen dieser Kampagne wurde das hauptsächlich für Kinder und Jugendliche konzipierte Ballerspiel »Fortnite« aus dem Verkehr gezogen und die einheimische Computerspielindustrie angehalten, problematische Punkte der chinesischen Geschichte wie Verweise auf die deutsche und japanische Geschichte zu unterlassen. So sollen Waffen und Uniformen aus der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft, der japanischen Besatzung und dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gezeigt werden, was vor allem die FAZ besonders grämt. Doch die Aufregung der deutschen Öffentlichkeit über diese Anordnungen und Verbote war ebenfalls ein Spiel. Oder eine Blamage und zwar im doppelten Sinne.
2003 stand der bayerische Abgeordnete Andreas Scheuer (CSU) vor dem Bundestag und forderte eine Reform des Jugendschutzgesetzes, um die deutsche Jugend vom virtuellen Geknalle abzuhalten. »Es ist doch Realität, dass in den Spielhöhlen die jungen Freaks vor allem auch durch ihre Lockerung der Altersgrenze öffentlich um den Sieg ballern können«, beschwerte sich der spätere Bundesverkehrsminister, der in dieser Funktion dann auch für die digitale Infrastruktur zuständig war. Als er noch in der Opposition war und sich um die »Spielhöhlen der jungen Freaks« sorgte, galten Killerspiele als Auslöser für Amokläufe von Schülern, die ab 1999 die Bundesrepublik erschütterten. »Schießen auf alles, was sich bewegt. Abknallen des Mitspielers. Besser kann man einen Amoklauf gar nicht trainieren. Das passt nicht in unser Wertesystem. Da muss der Riegel vorgeschoben werden«, betonte Scheuer damals in seiner Rede. Sekundiert wurde der bayerische Mahner von den großen Medien. Vor allem nach Amokläufen wie in Erfurt 2002, in Emsdetten 2006 und in Winnenden 2009 überbot sich der Boulevard mit autoritären Handlungsanweisungen. »Killerspiele endlich verbieten« titelte vor 16 Jahren die Münchner »Abendzeitung«. Polemisch fragte Chefredakteur Michael Radtke: »Wie viele Opfer muss es eigentlich noch geben, wie viele verwüstete, auf Gewalt programmierte Seelen von jungen Leuten«?
Für die Verhinderung solcher Spiele ist tatsächlich der Staat zuständig, die Bundeszentrale für Kinder- und Medienschutz, die 1954 als Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gegründet wurde, um die »deutsche Jugend« vor »gewissen Auswüchse des Zeitschriftenmarktes« zu bewahren, und zwar vor solchen, die »die öffentliche Sicherheit« bedrohen könnten. Erste Amtshandlung im Gründungsjahr: die Indizierung der italienischen Comicreihen »Der kleine Sheriff« (der im Wilden Westen unterwegs war) und »Jezab, der Seefahrer« (der in der Antike herumfuhr), da in diesen Gewaltdarstellungen zu finden seien, die einer »entarteten Fantasie« entsprungen seien, beispielsweise ein Mordversuch durch Erwürgen beim »kleinen Sheriff«. Trotz des historisch belasteten Gebrauchs des Begriffs »entartet« wurde im selben Jahr von der Prüfstelle der Leihbuchroman »Kleines Geschäft mit der Liebe« von Gerd Dahlen aus dem Verkehr gezogen, weil er »Rassenhetze« verbreiten würde. Auch in den Jahrzehnten danach sorgte die Prüfstelle dafür, dass nationalsozialistische Symbole und Abzeichen nicht in Spielen, Büchern oder auf Tonträgern abgebildet werden dürfen.
Wenn heutzutage chinesische Medien Onlinespiele als »geistiges Opium« und »elektronische Drogen« titulieren, dann könnte sich Andreas Scheuer rückblickend ärgern, dass er nicht schon 2003 auf solch pfiffige Formulierungen gekommen war. Vielleicht war das auch ein Grund, warum der Versuch der konservativen Parteien, das Jugendschutzgesetz zu verschärfen, damals scheiterte. Nötig war er nicht unbedingt. Selbst James Bond, der westlichste aller Kinohelden, bekam die angeblich den Werten des freien Westens zuwiderlaufende Zensur zu spüren. 1998 indizierte die Bundesprüfstelle das Spiel »GoldenEye 007«, das auf dem gleichnamigen Film basierte, in dem Pierce Brosnan erstmals den Doppelnull-Agenten »mit der Lizenz zum Töten« darstellte und zwar aus dem Grund, weil das Spiel detailliert Tötungsvorgänge präsentiere und »jedes Töten insofern positiv gratifiziert« werde, da »nur das Töten der zahlreichen Gegner es ermöglicht, in den Besitz von Waffen und Munition zu gelangen, um so das nächste Level zu erreichen«. Diese Einstufung wurde erst im vergangenen Herbst aufgehoben, als justament auch endlich der neue James-Bond-Film anlief, mit dem vielsagenden Titel »Keine Zeit, zu sterben«.
2011 wurde der Shooter-Klassiker »Doom« vom Index gestrichen. Als Begründung wurde von der Bundesprüfstelle die technische Weiterentwicklung im Bereich der Videospiele genannt. So seien die in »Doom« präsentierten Gewaltszenen »nach heutigen Maßstäben weder als detailliert noch als realistisch/realitätsnah einzustufen«. Sie eigneten sich nicht dafür, »heutigen Minderjährigen als Vorbild für reale Handlungsmuster zu dienen«. Mit der Zeit ändert sich nicht nur die Rechnerleistung, sondern auch die Moral. Schon lange kann man auch Comics mit dem kleinen Sheriff und dem Seefahrer Jezab wieder frei erwerben. Wem das nun genau zu verdanken ist, der hier herrschenden Freiheit oder dem fortlaufenden moralischen Verfall der westlichen Welt, muss jeder für sich selbst entscheiden.
Oder man bekommt es von der chinesischen Regierung erklärt. Was hält die eigentlich von Comics?
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