Wie ein Schnitzel

Der »Spiegel« wird 75 und kann auch sehr beruhigend wirken

»Der Spiegel« ist diese Woche 75 geworden. Etwas jünger als das »nd« und als meine Eltern. Ich hab ihn das erste Mal in der vierten oder fünften Klasse gelesen. Na, lesen: Zuerst habe ich mir nur die Bilder angeschaut und die Bildunterschriften gelesen, wenn ihn meine Eltern im Freibad dabeihatten. Die Bildunterschriften waren oft ironisch, die Überschriften der Texte sowieso. Ist das zu trivial? Für den »Spiegel« ist doch die ganze Welt eine Klatschgeschichte, deren Fakten aber eins a recherchiert und gecheckt sein sollen, so geht die Erzählung.

Und dann kam Claas Relotius, und alles war hin, jedenfalls ein bisschen. Ich kann mich noch an seine Geschichte über den Jungen erinnern, wegen dem der syrische Bürgerkrieg angefangen haben sollte. Fand ich ganz normal. Georg Seeßlen hat angemerkt, dass man mit dem »Spiegel« bereits in den 70er Jahren »in einer Pulp Fiction des Politischen« lebte. Solange Kohl regierte, gab es fast jede Woche die Prophezeiung, seine Regierung sei am Ende. Dazu kamen die unzähligen Hitler-Titelgeschichten, die endlosen Geschichtsbetrachtungen von Herausgeber Rudolf Augstein und die vielen Skandalenthüllungen (Neue Heimat, Flick, WM 2006). Hab ich alles gelesen.

Gut war’s, wenn ich verkatert war, dann wirkte die Lektüre physisch beruhigend wie ein Schnitzel Wiener Art mit Erbsen und Salzkartoffeln im Karstadt-Restaurant. Nur dass sie länger dauert. Denn zwanghaft lese ich das Heft von vorne bis hinten, weil ich es schon als Kind so gemacht habe. Lande ich endlich im Kulturteil, der mich theoretisch am meisten interessiert, bin ich oft schon derart ermüdet, dass ich mich über jedes bemerkenswerte Interview ärgere, weil ich das auch noch lesen will. Und wenn mich dann jemand einen Tag später fragt: »Was stand denn da drin?«, weiß ich es meistens nicht mehr. Dabei sollten »Spiegel«-Leser doch »mehr« wissen, das war der alte Werbespruch. cm

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