• Kultur
  • »Sinfonie des Fortschritts« von Nicoleta Esinencu

Europas Scheinheiligkeit abfucken

Am Berliner HAU konfrontiert das Stück »Sinfonie des Fortschritts« das Publikum mit prekärer Arbeit

  • Luise Meier
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Mensch-Maschinen-Orchester in »Sinfonie des Fortschritts« zeigt, worauf unser Wohlstand fußt.
Das Mensch-Maschinen-Orchester in »Sinfonie des Fortschritts« zeigt, worauf unser Wohlstand fußt.

Nicoleta Esinencus »Sinfonie des Fortschritts« im Berliner HAU 1 lässt wenig Raum für Missverständnisse, und das ist auch gut so. Keine Inseln der Zweideutigkeit, in deren Sicherheit man sich distanziert, interessiert oder gar mit kritisch überlegenem Blick zurückziehen könnte, wenn die Performer*innen auf der Bühne einmal mehr unmissverständlich klarmachen: Ihr seid gemeint, die EU ist gemeint, diese real existierende Rechtsordnung, auf die man hier so stolz ist, ist gemeint, deine Amazon-Bestellung, deine Zucchini, deine gefühlt progressive Attitüde. Da hilft auch kein E-Auto, kein veganes Schnitzel und schon gar kein Achtsamkeitstraining. Ambivalenz und Widersprüche gibt es in unserer von Esinencu schneidend entblößten Realität, die maßgeblich von in West- und Nordeuropa arbeitenden Osteuropäer*innen beackert wird genug, als dass sie künstlich/künstlerisch erst hergestellt werden müssten.

Auf der Bühne bohrt, tanzt, singt, spricht, schraubt das Mensch-Maschinen-Orchester, angestrahlt von Lichtpanels und Baustrahlern, die an die unzähligen Berliner Baustellen erinnern, auf denen natürlich, wie sollte es anders sein, ebenfalls osteuropäische EU-Aus- und Inländer*innen arbeiten. Die manchmal glücklicherweise unabgeschlossenen Dixiklos dieser Baustellen benutzen wiederum auch die von Algorithmen und ohne Pinkelpause durch die Stadt gehetzten Amazon-Lieferfahrer*innen, wie man im Laufe des Abends erfährt.

Den Rhythmus der Sinfonie bearbeiten die drei Performer*innen mit wechselnden Powertools und Soundboards, die vor ihnen auf Arbeitstischen und Stativen ausgebreitet stehen. Zwei Studierende der Universität Moldau, heißt es zu Beginn, haben Bohrhammer, Akkuschrauber und Stichsäge so umkonstruiert, dass sie nicht nur die maschinentypischen Bohr-, Hämmer- und Sägegeräusche hervorbringen, sondern auch Klänge, die mal an Sirenen erinnern, mal an die Benachrichtigungstöne der zahlreichen Messenger-Apps, mal an Schnipsel sphärischer Ambientmusik und mal an Bässe im Technoclub. Mit den Klängen bohren sich auch die rhythmisch elektrifizierten Texte ins Bewusstsein, die nicht nur die Arbeitsbedingungen von Saison-, Gastarbeiter*innen beschreiben, sondern immer wieder unterbrochen werden von aus Werbung und Internet nur allzu bekannten Selbstsorge-, Selbstaffirmations-, Selbstoptimierungs- und spirituellen Achtsamkeitsformeln. Das Groteske dieses Nebeneinanders unserer Gegenwart spiegelt sich auch in den schnellen Wechseln der Mimik der Performer*innen, die mal verführerisch, mal hilflos, mal sprachlos mit offenem Mund, mal pflichtbewusst eine Meditation anleitend, aber immer frontal das Publikum adressieren.

Nicoleta Esinencu komponiert und montiert ihre Texte – Arbeiterlieder neuen Typs, müsste man sagen – so, dass sie nicht allein Anklage der unhaltbaren Zustände bleiben, sondern vor allem Widersprüche lesbar machen, die durch das Aufeinanderprallen schockartig das perfide, gruselige und Ohnmacht erzeugende Nebeneinander von »Toxic Positivity«, »Conscious Consumerism«, achtsamer Sprache, nachhaltigem Lebensstil und erniedrigender Ausbeutung, westlichem Überlegenheitsanspruch und quasi-kolonialen Machtverhältnissen offengelegt werden. Fast wünscht man sich, man könnte, statt der seltsamen Selbstoptimierungs- oder Positive-Thinking-Sprüche, die sich Leute heute gerne ins Büro, über den Spiegel oder den Küchentisch hängen und die sich auf unzähligen Werbeplakaten oder in Lifestylemagazinen wiederfinden, die Stadt, die Privatwohnungen und die Arbeitsplätze mit Zitaten von Esinencu plakatieren.

Als es irgendwann um Leber-Detox-Präparate für Frauen und Männer geht und ein*e Performer*in einwirft »Sorry, non-binary people, no liver detox for you!« (Sorry, non-binäre Menschen, keine Leberentgiftung für euch!), will der auf positives, lösungsorientiertes Denken trainierte kleine neoliberale Manager des Kundenservice deutscher Überlegenheit in uns sofort aufatmen und sagen: Na, wenn es weiter nichts ist, da kann man doch was machen, eine*n Diversity-Beauftragte*n einstellen oder eine Onlinepetition unterschreiben oder was twittern! Da heißt es schon von der Bühne runter: Keine Sorge – »Non-binary liver detox is coming soon!« Und damit ist alles gesagt über die Integration einst subversiver Forderungen in die Vielfalt des Konsumkapitalismus und die daraus resultierenden moralischen Überlegenheitsgefühle bei gleichbleibenden Ausbeutungsbeziehungen. Das mag irritieren, entspricht aber der Realität. Auch ein diversifiziertes naturkundliches Präparat (mit medizinisch nicht nachgewiesener Wirksamkeit) hilft nicht gegen das europäische Grenzregime, das Italien-Syndrom, die Deutschland-Krankheit oder die England-Angststörung, von der man in Moldawien spricht.

Das Stück reißt durch diese und unzählige weitere Verunmöglichungen der Ausflüchte in neoliberale Freedom-of-Choice-Argumente einen Graben auf, den es sich weigert zu schließen, mit dem das Publikum nach Hause geht, den kein moldauischer Straßenarbeiter zuschüttet und keine rumänische Reinigungskraft für uns wegputzt. Man verlässt das HAU 1 – zum Glück – frustriert und wütend und mit der rhythmisch weiter bohrenden Frage: Was tun?

Kleine Hinweise auf diese große Frage lassen sich bei Esinencu und Team finden: umkonstruieren, wie es Neonil un Fd Iulian von der Universität Moldau mit den einst ausrangierten Elektrowerkzeugen für dieses Stück getan haben. Reparieren, wie es Tchura gemacht hat, der vor dessen Privatisierung im Topaz-Werk arbeitete, aus der die Leuchtpanels auf der Bühne kommen, und der jetzt einen Gebrauchtwarenladen betreibt. Oder die Scheinheiligkeit Europas abfucken, wie im Text »Enjoy Killjoy« anklingt, der gegen Ende des Stücks einen Ausblick darauf gibt, wie der Ärger und die vermeintliche Ohnmacht vielleicht umzukonstruieren wären: indem man den Konflikt und die Kämpfe gegen die Zustände genießt, wenn die Zustände ungenießbar geworden sind – überall und immer, wenn man Weihnachten zum Beispiel und vielleicht auch zu allen anderen Einheits-, Fortschritts- und Selbstbeweihräucherungsfeierlichkeiten genüsslich die Show vermiest.

Nächste Vorstellungen: 14., 15. und 16.1.
www.hebbel-am-ufer.de

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