Tränen lachen, Blut spucken

Vor 400 Jahren wurde der französische Dramatiker Molière geboren

Was wissen wir über den großen Komödiendichter Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière? Eine lückenreiche Biografie ist uns übermittelt. Am 15. Januar 1622 wurde er getauft. Am Vortag, vor 400 Jahren, so wird heute angenommen, ist der Sohn eines wohlhabenden Händlers in Paris auf die Welt gekommen. Weit, weit mehr Informationen können wir dieser Tage über ihn zusammentragen als über den Alten aus Stratford-upon-Avon, der das Theater gründlich auf den Kopf gestellt hat. Aber doch erfahren wir am meisten über den einen wie den anderen, wenn wir uns Drama für Drama vornehmen.

William Shakespeare hat uns mit seinen Stücken um Könige und Lords den Machtmenschen auf die Bühne gestellt und uns einen tiefen Einblick in die abgründige Psyche unserer Artgenossen gewährt. Sie sind der Grund, warum einige Literaturhistoriker beim Schriftsteller Shakespeare eine Nähe zum Herrschaftsapparat seiner Zeit vermuten. Unbestritten aber sind seine Stücke Reaktion auf das politische Handeln seiner Zeit.
Molière wiederum hat mit seinem Spott Adel, Bürgertum und Kirche versehen. Vom König zeitweise protegiert und doch von großen Teilen der Obrigkeit gehasst, führte er mit feinem, klugem Witz, der Derbheiten nicht ausschloss, die gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit vor: Glaubenseifer und bürgerlichen Kleingeist etwa.

Warum aber lesen wir diese Stücke heute noch, sehen uns die zahlreichen Inszenierungen in den Theatern oder die Filmadaptionen an? Was haben die Edelmänner mit ihren Bediensteten der Vorzeit uns heute zu sagen? Es hat wohl etwas damit zu tun, dass Politik nicht als Abstraktum verstanden wurde, über das man entweder nur theoretisierend oder nüchtern berichtend sprechen könnte. Der Konflikt, der sich notwendig aus zuwiderlaufenden Interessen ergibt, findet sein Abbild auf der Bühne. Das Theater als Spiegel der gesellschaftlichen Realität. Ein Spiegel allerdings, der niemals ohne Verzerrungen und Verkehrungen auskommt. Erst sie helfen uns verstehen, wie die Gesellschaft eingerichtet ist, deren Teil wir sind.

Molière besuchte eine jesuitisch geführte Schule in Paris, studierte später Rechtswissenschaften in Orléans. Ob er sich als Rechtsgelehrter jemals verdingt hat, wissen wir nicht. In den 1640er Jahren vernarrte er sich, zum Unmut seiner Eltern, in die Schauspielerin Madeleine Béjart – und in das Theater. Er gründete seine eigene Truppe: L’Illustre Théâtre. Bald schon ging ihnen das Geld aus, und sie schlossen sich einem Wandertheater an. Molière war zunächst als Schauspieler tätig, bald auch als Direktor der Gruppe.

Ab 1655 trat er ebenfalls als Dramatiker auf den Plan und erweiterte so das Repertoire seines Theaters. Um die 30 Stücke hat der Schriftsteller verfasst. »Der Menschenfeind«, »Tartuffe«, »Don Juan«, »Amphitryon« und »Der Geizige« – so heißen die berühmtesten darunter, die bis heute weltweit gespielt werden.

Zum erfolgreichen Theatermann wurde Molière nach dem Ende seiner 13 Jahre währenden Wanderzeit und seiner Rückkehr nach Paris. Herzog Philippe I. d’Orléans fand Gefallen an den humorreichen, bissigen Komödien und gewann auch seinen älteren Bruder, König Ludwig XIV., dafür. Mächtige Freunde hatte er also – und bald auch mächtige Feinde. Zwar spielte seine Truppe kurze Zeit später bereits am Hof, aber die schonungslose Kritik an den dortigen Zuständen, die Vorführung des Adels und des Klerus wurden ihm übel genommen.

»Tartuffe«, das die religiöse Heuchelei anklagt, wie auch »Don Juan oder Der steinerne Gast«, in dem der Titelheld der Libertinage frönt, stießen auf erheblichen Widerstand. Es hagelte Verbote. Molière geriet mit seinen Stücken mitten in die Auseinandersetzungen einer sich wandelnden Welt. Oder nahm er sie vorweg? Es waren zermürbende Kämpfe, sein Gesundheitszustand litt. Neben seinen gewohnt spitzen Komödien schrieb er nun auch gefälligere Stücke.

Dieses schwierige Verhältnis zwischen dem freiheitsliebenden Künstler und einer restriktiven Herrscherclique, mag der Potentat sich auch generös geben, wir kennen es zu gut aus anderen Jahrhunderten. Michail Bulgakow, dieser Klassiker weit jüngeren Datums, durchlitt ein ähnliches Schicksal. Von Stalin geschätzt und gefördert, mit seiner avantgardistischen Kunst allerdings, nie bar der Kritik, vom Moskauer Apparat drangsaliert. Bulgakow wählte für sein Stück mit dem vielsagenden Titel »Die Kabale der Scheinheiligen« und für den Roman »Das Leben des Herrn Molière« die Vita des französischen Nationaldichters – und schrieb doch über sich selbst und seine Zeit. Vielleicht hält sich der eine oder andere Autokrat gern einen freigeistigen Künstler zum Ausweis der eigenen Offenheit. Nun ist es an dem, sich von der Nähe zur Obrigkeit nicht korrumpieren zu lassen. In dem Spannungsfeld von Macht und Wahrheit, das in der Fiktion aufgeht, ereignet sich bedeutsame Kunst.

Molières letztes Werk, »Der eingebildete Kranke«, zählt zu seinen bekanntesten. Es ist das Stück über einen Hypochonder, der selbst aus dieser Disposition noch Gewinn zu suchen versteht. Am 10. Februar 1673 kam es zur Uraufführung. Bei der vierten Vorstellung, am 17. Februar 1673, brach die Realität in die Scheinwelt ein. Molière, der Argan, den eingebildeten Kranken, gab, erlitt kostümiert und auf der Bühne stehend einen Blutsturz. Der Hypochonder lügt nicht, weil er weiß, dass er jederzeit tatsächlich erkranken kann. Und der Mime spielt nicht nur, sondern er zeigt das mögliche Andere. Einmal mehr dürfte Molière das Publikum frappiert haben durch eine überzeugende, aber schmerzlich konfrontative Darbietung. Allerdings – »Im Karneval ist nichts verboten«, so heißt es im Schlussakt von »Der eingebildete Kranke«. Infolge dieses letzten Auftritts starb Frankreichs großer Autor.

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